Das Erbe am Rand Europas

Manuel Pestalozzi
3. Mai 2018
Apuliens Adriaküste – mal Bollwerk, mal Sprungbrett. Die achteckige Torre Santa Sabina aus dem 16. Jahrhundert gehört zu einer Kette von Aussichtsposten, die miteinander kommunizierten. Bild: Manuel Pestalozzi

Die Regionen Apulien und Basilicata sind aktuell keine Hotspots der Weltarchitektur – auch wenn immerhin Bari ein Fussballstadion und San Giovanni Rotondo eine Wallfahrtskirche von Renzo Piano vorzuweisen haben. Trotzdem zieht es Mitglieder des Reaktionsteams von Swiss Architects dorthin. Auf ihr Mitteilungsbedürfnis wirkt es stimulierend: 2016 schrieb Inge Beckel ihre Landschaftsbeobachtungen nieder, jetzt ist dieser Verfasser an der Reihe. Von einer kleinen Kulturreise durch den Absatz des italienischen Stiefels zurückgekehrt, fühlt er sich ebenfalls berufen, die Erfahrung in Worte zu verwandeln.

Was bleibt
Der Verfasser erlebte eine Abfolge zeitlicher und räumlicher Kontraste vor dem Hintergrund aktueller Befindlichkeiten. Einerseits tauchte er zusammen mit einer kulturinteressierten Reisegruppe in die wechselhafte und komplexe Geschichte der Region ein. Dann musst er auch regelmässig zurückdenken an eine Süditalienreise, die er im Frühling 1986 unternahm – just als sich in Tschernobyl der Super-GAU ereignete. Wir leben noch, Südostitalien auch. Was hat sich verändert? Was bleibt?

Apulien gilt als traditionelle Tourismus- und Durchreisedestination – ab Brindisi erreicht man mit dem Auto leicht das griechische Festland. Die Region ist über weite Strecken dicht besiedelt, auch die landwirtschaftliche Nutzung des häufig karstigen Bodens wirkt intensiv. Fast endlose Olivenhaine evozieren Gedanken an eine Ölschwemme, welche in ihrer Quantität die heimische Milch-Überproduktion harmlos erscheinen lässt.

Zwischen Zonen hoher agrarischer Produktivität und – auch das gibt es – vernachlässigten, zerfallenden Gewerbegebieten liegen die historischen Siedlungen mit kulturell-touristischem Wert. Diesen Überbleibseln der Vergangenheit scheint es besser zu gehen als auch schon. Sie wirken herausgeputzt, sauber, fachkundig repariert und manchmal geradezu aseptisch. Kirchen, Paläste, Burgen, Grabmäler und auch öffentliche Plätze empfangen ihre Gäste freundlich, doch manchmal auch mit wissenschaftlich-kühler Distanz. Die Italienerinnen und Italiener sind zwar noch da, doch das aus früheren Jahren bekannte Gewusel mit dem akustischen Begleitkonzert scheint merklich abgeschwächt. Fast hat man den Eindruck, es scheine sich zu brechen an den hellen, harten Oberflächen der sanierten Objekte und Aussenräume.

Trulli bleiben Trulli, doch in der Stadt Alberobello lässt die heutige Zweckbestimmung dieser archaischen Bauten mit ihren Kragplatten-Dächern an eine keimfreie Phantasie-Welt im Sinne von Walt Disney denken. Bild: Manuel Pestalozzi

Sterne auf blauem Grund
Die Fahne der Europäischen Union ist in Süditalien allgegenwärtig. Sie hängt von den Balkonen von Regierungsbauten, prangt auf Plaketten von Projekten, die von der EU gefördert wurden – und natürlich auch auf Bautafeln von Vorhaben, die noch im Gang sind und manchmal vor Ort zu treten scheinen. Leider denkt der Verfasser beim Sternenkranz auf seinem blauen Grund nicht an eine politische Emanzipation dieser Region sondern daran, dass sie auf über 1000 Jahre Fremdherrschaft zurückblickt. Die Griechen, die Römer, die Byzantiner, die Normannen, die Staufer, die Schwaben, die Franzosen, die Spanier, der piemontesische König Italiens, sie alle sagten den Ansässigen, was Sache ist und wo’s durchgeht. Hat die EU als Geldgeberin mit wohltätiger Gesinnung ihre Rolle übernommen?
 
Die Frage ist polemisch, eine befriedigende, «wahre» Antwort auf sie gibt es wohl nicht. Doch bei den sanierten historischen Gebäuden drängt sich der Gedanke auf nach der Art, welche ihre «europäische Botschaft» als gemeinsames kulturelles Erbe sein kann. Neben dem Regionalismus, der am deutlichsten bei den archaischen Steinbauten mit den Kragplatten-Kegeldächern, den Trulli, zur Geltung kommt, gilt die Aufmerksamkeit in dieser Beziehung primär jener Architektur, die von überregionaler Bedeutung ist und die Rolle der Gegend in einen grösseren, europäischen Kontext einbettet. Ganz besonders gilt das für die Küstenzone. Ihre Bauwerke legen die «ewigen Widersprüche» des europäischen Selbstverständnisses offen.

Wer kommt? Wer geht? Die historische Hafenanlage von Otranto zeigt sich offen und wehrhaft zugleich. Bild: Manuel Pestalozzi

Die Häfen Apuliens beteiligten sich am Austausch mit Konstantinopel, sie spielten bei den Kreuzzügen des Mittelalters eine Rolle und schufen die Basis für fruchtbare und einträgliche Kontakte mit dem Morgenland. Staufer-Kaiser Friedrich II, aus schwäbischem Adelsgeschlecht stammend aber gebürtiger Apulier, siedelte aktiv muslimische Sarazenen an der Küste an. Später sorgten Sarazenen für Angst und Schrecken, als sie zur Zeit des Osmanischen Reiches vom Meer her Raubzüge unternahmen.
 
Die Interpretation des Meeres als offener Grenz- und Verkehrsraum, den man einerseits nutzbar machen möchte, andererseits aber als «Aufmarschzone» auch fürchtet, wird durch das architektonische Erbe Apuliens repräsentiert. Die historischen Bauten an der Küste markieren einen Grenzverlauf und zeigen mit den verschiedenen Baustilen gleichzeitig auch die kulturelle Grenzenlosigkeit Europas auf, die gerade an den Rändern des Kontinents eine vielseitig interpretierbare Zweideutigkeit besitzt. Ist das Mittelmeer eine Ergänzung Europas oder eine Abgrenzung? Zu dieser zentralen, noch immer nicht befriedigend behandelten Frage vermittelt das gebaute Erbe Apuliens zweifellos zahlreiche Anregungen.

Touristinnen blicken in Matera von der Piazza Vittorio Veneto in den Sasso Barisano hinab. Bild: Manuel Pestalozzi

Aufgeräumt, ausgeräumt: Matera
Es gab Zeiten, in denen weite Küstengebiete Italiens unbesiedelt waren und sich die Bevölkerung ins gebirgige Hinterland zurückzog, wegen der Raubzüge der Sarazenen und wegen der Malaria. Auch die Stadt Matera in der Region Basilicata, nahe der Grenze zu Apulien gelegen, gilt als ein solcher Rückzugsort. Die Altstadt ist in den oberen Bereichen der steil abfallenden Schlucht des Flusses Gravina in den Fels gehauen. Die beiden Altstadtquartiere heissen denn auch Sassi – Felsen. Zu trauriger Berühmtheit gelangte Matera durch den weltberühmten Erlebnisbericht von Carlo Levi: «Christus kam nur bis Eboli». Der Arzt aus Turin wurde in den 1930er-Jahren vom faschistischen Regime aus politischen Gründen in ein Dorf der Basilicata verbannt. Sein Buch enthält eine Beschreibung von Matera durch seine Schwester Luisa, ebenfalls Ärztin, die dort eine Besuchserlaubnis einholen musste.
 
Die Beschreibung von Matera ist ein denkwürdiges, sehr lesenswertes städtebauliches Dokument, das die Gestalt der Stadt und die entsetzlichen Zustände in den Sassi präzise und leicht erfassbar beschreibt. Die Wegführung über die Dächer der Vorbauten der Höhlen, das prekäre Zusammenleben von Menschen und Tieren in den Höhlen, die deplorablen hygienischen Zustände und die schlechte gesundheitliche Verfassung der Bevölkerung wird mit einprägsamen Worten bildhaft gemacht. Für diesen Verfasser war diese Schilderung Anlass genug, Matera im Frühling 1986 in sein Reiseprogramm aufzunehmen. Mit Entsetzen blickte er damals auf eine sich jählings dem Blick öffnende Ruinenstadt herab, die völlig lautlos dalag, als Mahnmal einer schlimmen Vergangenheit.

Blick auf den Sasso Barisano im Frühling 1986. Bild: Manuel Pestalozzi

Der angetroffene Leerstand war auf eine Räumungsaktion zurückzuführen, welche die italienische Regierung in den 1950er- und 1960er-Jahren durchführte. Die Bevölkerung wurde in Neubauquartiere über der Schlucht umgesiedelt, die verbliebenen Ruinen gingen weitgehend in Staatsbesitz über. Seit 1986 ist einiges geschehen: 1993 erklärte die UNESCO die Sassi zum Weltkulturerbe. Seither setzten Restaurierungs- und Wiederbelebungsversuche ein. Anfangs des neuen Jahrtausends filmte Mel Gibson Teile von The Passion of the Christ (2004) in diesem pittoresken Setting. Christus war jetzt endgültig angekommen, die Crews anderer, meist profanerer Blockbuster folgten. Heute gelten die Sassi angeblich als hip. Es gibt Bars und Wellnesshotels der oberen Preisklasse. Daneben bemüht man sich darum, permanente Bewohnerinnen und Bewohner anzusiedeln. Gekrönt werden soll diese Entwicklung mit dem Status der Europäischen Kulturhauptstadt, welche Matera 2019 einnehmen wird.
 
Heute präsentieren sich die Sassi als reglementiert monochrome, halb belebte Ruinenlandschaft, ausgeräumt und aufgeräumt. Das Hotellerie- und Gastronomieangebot verteilt sich locker über die verlassenen Quartiere, die Beläge der Strassen und Wege – einst Dreck, 1986 Asphalt – bestehen aus matt glänzendem Kalkstein, dem gängigen Merkmal sanierter historischer Aussenräume. Was im Kulturerbejahr genau geschieht, ist nur ansatzweise bekannt. Wie man hört, soll die Erreichbarkeit der Sassi verbessert werden. Die meisten Zonen sind nur zu Fuss über steile Treppen erreichbar. So bleibt abzuwarten, ob man mit Liften oder Rolltrepen zum Elend von einst gelangen wird.
 
Wenn es um den Erhalt einer baulichen Dokumentation elender Zustände geht, ist guter Rat tatsächlich teuer. Es geht darum, zwischen Kulissen, Monumenten und einer kommerziell einträglichen Nutzung einen Mittelweg zu finden. Die Erinnerung muss in sinnvolle und erträgliche Bahnen geleitet werden. In den Sassi von Matera ist das heute noch gut möglich. Bleibt zu hoffen, dass der Ort das Jahr als Europäische Kulturhauptstadt dazu nutzen kann, die eigene Identität mit einem selbstbewussten, die Vergangenheit respektierenden Auftreten nachhaltig zu konsolidieren.

Kulinarische Genüsse am Rande des Abgrunds. Restauration an der unteren Umfahrungsstrasse der Sassi. Bild: Manuel Pestalozzi

Verwandte Artikel

Vorgestelltes Projekt

EBP AG / Lichtarchitektur

Schulanlage Walka Zermatt

Andere Artikel in dieser Kategorie