Une ville pour l’homme

Jenny Keller
23. August 2017
La Chaux-de-Fonds vom Tour Espacité aus gesehen, links die Hauptachse «Le Pod», rechts der Nordhügel. Bild: jk

An einem trüben Sommertag friert es einen in La Chaux-de-Fonds, als wäre Spätherbst, trotz Merinopulli und Wachsjacke. Kein Wunder, ist die Jurastadt ja auch eine der höchstgelegensten Städte von Europa, mit einer Jahresmitteltemperatur von 5,8 ° Celsius, wobei im Januar mit -2,0° Celsius die kältesten und im Juli mit 14,3° Celsius die wärmsten Monatsmitteltemperaturen gemessen werden.Nicht ganz gelungene Zeitzeugen der Architektur der 1970er- und 1980er-Jahre untermalen das in die Jahre gekommene Bild, und dennoch atmet man hier auf Schritt und Tritt Geschichte ein. Begleitet von einem unglaublichen Licht und einer einzigartigen Atmosphäre.

La Chaux-de-Fonds tickt anders
La Chaux-de-Fonds war bis in die 1970er-Jahre DIE Uhrenstadt mit grossem wirtschaftlichem Erfolg. Nach Öl- und Quarzkrise, die mit der serienmässigen Entwicklung von günstigen Quarzuhren aus Fernost begann, hat sich das Gesicht und die wirtschaftliche Lage der Stadt verändert. Und trotzdem: La Chaux-de-Fonds hat etwas. Die Stadt ist einmalig – und wird unterschätzt. Obwohl: Die Uhrenstadt ist seit 2009 UNESCO-Welterbe, aufgrund des architektonischen Wertes ihres orthogonalen Strassennetzes und der zahlreichen Jugendstilbauten.

Die breiten Strassenzüge sind gänzlich unschweizerisch, und La Chaux-de-Fonds scheint auf ihrer Hochebene typisch jurassisch vielem zu trotzen, nicht nur dem Wetter und der Weltwirtschaftslage. Sie ist als städtebauliches Gesamtensemble noch heute Zeugin des 19. Jahrhunderts, denn die Krise in den 1970er-Jahren war nicht die erste: In einer wahrscheinlich kalten Mai-Nacht im Jahre 1794 zerstörte ein Feuer, ausgebrochen im Haus eines gewissen Monsieur Grisard, der unglücklicherweise Schiesspulver im Keller lagerte, das Zentrum des Dorfes La Chaux-de-Fonds. 52 Häuser wurden zerstört, 170 Familien verloren ihr Dach über dem Kopf. Menschliche Opfer gab es glücklicherweise keine zu beklagen.

Der Wiederaufbau war geprägt von Steinhäusern, einfachen Geometrien, breiten Strassen sowie abgegrenzten Wohnblöcken. Die Stadt ist seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der Hand der Uhrenindustrie und entwickelt sich rund um diesen Hauptwirtschaftsfaktor. La Chaux-de-Fonds wurde von Uhrmachern für die Uhrenindustrie gebaut. Da die Uhrenkomponenten in Heimarbeit gefertigt wurden, war die Belichtung der Häuser oberstes Gebot. Der Junod-Plan, benannt nach den Ingenieur Charles-Henri Junod, führte 1830 das axiale Strassensystem ein, und Junod liess die Stadt sich gegen den Nordhang ausbreiten, wo das Süd-Licht die Innenräume der Häuser am längsten erreicht. Die breiten Strassen und die Hanglage begünstigen die natürliche Belichtung zusätzlich.


 

Stillleben mit stillgelegtem Kiosk. Bild: jk

Es ist ein Zufall, dass Le Corbusier, geboren als Charles-Edouard Jeanneret-Gris, in La Chaux-de-Fonds das Licht der Welt erblickt hat. Seine Apotheose, oder nennen wir es weniger schwülstig Architektenwerdung, indes ist von dieser Stadt (und dem Licht in der Stadt) beeinflusst worden. Seine Erstlingsbauten stehen noch heute in La Chaux-de-Fonds und können – manche von innen, alle von aussen – besichtigt werden2. Aber anders als seine frühen Bauten, die die Ära abbilden, in denen sie entstanden sind, kann der Geist der Stadt ganz Le Corbusiers späterem Schaffen zugeschrieben werden. Das bedarf wohl einer Erklärung: Als La Chaux-de-Fonds nach ihrem verheerenden Brand wiederaufgebaut worden ist, wurde sie nicht nur mit einem axialen Strassennetz versehen, sondern auch nach den Idealen der französischen Revolution errichtet: Liberté und Égalité sind noch heute zwei Grundpfeiler der links-liberal regierten Stadt. Licht, Transportwege, Rationalität und ein impliziter Sozialkonsens bilden das geistige Fundament der Jurastadt. In La Chaux-de-Fonds gibt es kein Zentrum, um das sich das Leben abspielt, kein Monarch, den es zu verherrlichen gilt. Von einer Hauptachse aus, der Avenue Léopold-Robert (umgangssprachlich «Le Pod»), entwickelt sich die Stadt. Sie richtet sich nach dem Licht und den Produktionsströmen aus, und die Orthogonalität ihres Strassennetzes war einzigartig in der alten Welt; Parallelen zum «Plan Voisin» von Le Corbusier sind also nicht nur zufällig. Der Vater des Modulor war geprägt von seiner Geburtsstadt, der «ville pour l'homme».
 

Tafel des berühmtesten Kindes, das an der Rue de La Serre 38 geboren wurde. Bild: jk

«Il est né le divin enfant... »
Charles Edouard Jeanneret-Gris wurde am 6. Oktober 1887 in La Chaux-de-Fonds geboren, als Sohn eines Emaillemalers und einer Klavierlehrerin. Er war der jüngere von zwei Brüdern, sein Augenlicht war schlecht, und man schickte ihn zwecks Übernahme des väterlichen Geschäfts an die lokale Kunstgewerbeschule. Dort nahm sich Charles L’Eplattenier seiner an, und im Kollektiv baute Charles Edouard zusammen mit seinen Kommilitonen die Villa Fallet, die ganz im Stil des örtlichen Jugendstils «Style Sapin» gehalten ist. Die Villa Jaquemet und die Villa Stotzer sind weitere Arbeiten im Kollektiv, ebenfalls im Heimatstil ausgebildet, und der spätere Le Corbusier hat die Pläne dafür gezeichnet. Die Villen sind heute in privatem Besitz. Für seine Eltern baute er nach der obligaten Studienreise in den Orient und nach Italien die Maison Blanche 1912 als erstes Einzelwerk. Sie befindet sich weit oben am Hügel und ist ein stattliches Anwesen, das neoklassizistische Anleihen hat und sich der Moderne Deutschlands annähert. Im Innern lassen Stützen anstelle massiver Wände das Licht vordringen. Der Garten wurde als Einheit mit dem Gebäude geplant. Heute ist das Haus als Museum für die Öffentlichkeit zugänglich.3
 

Die Maison Blanche, errichtet 1912. Bild: jk

Steigt man den Hügel wieder runter in die Stadt, kommt man am Cinéma Scala vorbei, dessen Hinterfassade einen Grossbrand im Jahre 1971 überlebt hat. Jeanneret hat das Kino 1916 gebaut. Ein Jahr später baute er die Villa Turque, das heute bekannteste Bauwerk des bekanntesten Chaux-de-Fonniers in seiner Geburtsstadt. Es wirkt futuristisch für seine Erbauungszeit und ist eine wahrliche Erscheinung. Leider gehört es einer Uhrenfirma, die den Gedanken der Égalité und Fraternité nicht teilt, sodass das Architekturdenkmal nicht von innen besucht werden kann.
 

Das Cinéma Scala baute Jeanneret im Jahre 1916. Es befindet sich wie sein Geburtshaus an der Rue de la Serre. Bild: jk

Rundgänge
Im Tour Espacité, von dessen Terrasse man sich einen ersten Überblick über die Stadt verschaffen sollte, befindet sich das Tourismusbüro. Dieses schlägt verschiedene Stadtführungen vor, zu denen man sich Kartenmaterial besorgen kann:
 
– Art Nouveau Jugendstil
– Le Corbusier
 
Anmerkungen
1) Quelle Wikipedia

2) Jeden Donnerstag um 14 Uhr führt eine Tour vom Espace de l’urbanisme horloger aus auf die Spuren von Le Corbusier. Adresse: Rue Jaquet-Droz 23

3) Association Maison Blanche
Chemin de Pouillerel 12
Geöffnet Freitag bis Sonntag, 10 bis 17 Uhr

 

Andere Artikel in dieser Kategorie