Visionen, Bilder, alte Männer

Manuel Pestalozzi
3. April 2018
Der Boden bleibt frei, die «Cloud'68» schwebt auf dem Hönggerberg von der Decke. Bild: Manuel Pestalozzi

Im Sandwich zwischen Acrylglaspaneelen hängen die Zeitdokumente ein halbes Jahrhundert nach dem grossen Aufbruch von der Decke des Ausstellungssaals im HIL-Komplex auf dem Hönggerberg. Es handelt sich um eine Auswahl von 173 grafischen Arbeiten – Lithografien, Zeichnungen, Radierungen und Ephemera – aus der Privatsammlung des chilenischen Architekten Smiljan Radić, der die Ausstellung zusammen mit Patricio Mardones kuratierte. Sie will den Bedeutungshorizont der verschiedenen architektonischen Ansätze jener Jahre aufzeigen.
 
Dies gelingt eigentlich sehr gut; wenn es den Gassen entlangwandert, welche die Schautafeln bilden, kann das Publikum die Stimmung und das Gefühl einer Befreiung aus jener Zeit förmlich spüren. Die Architekten wollten originell sein, technisch und gesellschaftlich ganz neue Ansätze finden – und sie nahmen in Anspruch, auch träumen zu dürfen. Auffallend häufig wird die Realitätsferne ausdrücklich gesucht, die Welt der Science Fiction taucht – neben Drucken von Giovanni Battista Piranesis «Carceri» – wiederholt auf, Stanley Kubricks «Weltraum-Odyssee» entfaltet seine stilbildende Wirkung ebenso wie die in intellektuelle Sphären überführter Tradition der Comic Strips und Fumetti, etwa bei Archigram oder der heute wohl weitgehend vergessenen «Internationale Situationniste».

Mitunter wird der Generationen Gap plötzlich erkennbar. Bild: Manuel Pestalozzi

Offenbar konnte man damals zur Ernsthaftigkeit des Lebens recht locker auf Distanz gehen. Und wer schon baute, baute Luftschlösser – im wörtlichen Sinn. Den aus durchsichtigen Kunststoffmembranen konstruierten pneumatischen Strukturen von Haus Rucker & Co. oder Hans Hollein wird gebührend Raum gewährt, bemerkenswerterweise kommt hier auch die Idee der Architektur als Kontrast und Ergänzung zum Bestehenden und der Respekt gegenüber des Bestandes deutlich zur Geltung
 
Eine wichtige und instruktive Ebene dieser Ausstellung sind die verschiedenen Darstellungsmethoden. Sie erinnern in Zeiten der Vorherrschaft digitaler Visualisierungsprogramme an die Qualitäten von Darstellungsverfahren, die noch ein «Handwerk» waren. Alleine die collagenartigen, schön eingefärbten Traumbilder vom italienischen Team Superstudio machen einen Besuch dieser Ausstellung zum lohnenden Erlebnis.
 
Wer Geduld und ein gutes Gehör hat, kann sich von Minibildschirmen noch Interviews mit Protagonisten von damals zu Gemüte führen. Es handelt sich um 13 Videoaufzeichnungen und Transkriptionen von Interviews, die der Kritiker und Kurator Hans Ulrich Obrist mit den Protagonisten von 68er-Bewegungen geführt hat. Es sind alles Männer – alte Männer mittlerweile, deren talking Heads einen kuriosen Kontrast zu den ewig frischen und frechen Darstellungen bieten. Die Ausstellung sorgt wirklich für Diskussionsstoff.

Cloud ’68 – Paper Voice. Smiljan Radićs Sammlung Radikaler Architektur
Bis Freitag, 18. Mai 2018.
ETH Zürich, Hönggerberg, HIL

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