Henry van de Velde (1863 bis 1957)

Auteur
Jenny Keller
Publié le
févr. 27, 2014

Das Museum Bellerive in Zürich zeigt ab dem 28. Februar 2014 «Henry van de Velde – Interieurs». Sabine Panchaud, die Kuratorin der Ausstellung, ist begeistert von van de Veldes angewandter Kunst und verwebt im Interview die Biographie des Designers und Architekten der Moderne mit wichtigen Fakten aus der Kunstgeschichte.
Henry van de Velde in seinem Arbeitszimmer im Haus Hohe Pappeln in Weimar-Ehringsdorf, 1907/08. Bild: Klassik Stiftung Weimar 
Weshalb zeigt das Museum Bellerive Henry van de Velde erst in diesem Jahr? Das Jubiläum des Gestalters mit einem Gesamtkonzept wurde doch eigentlich letztes Jahr begangen.
Das liegt an der Zusammenarbeit des Museums für Gestaltung Zürich, zu dem auch das Museum Bellerive gehört, mit der Klassikstiftung Weimar. Van de Velde hat in Weimar die 1908 eröffnete Kunstgewerbeschule mitbegründet, aus der später das Bauhaus hervorgegangen ist, und deshalb hat Weimar den Vorrang erhalten. Im Keller des Museums Bellerive in Zürich lagern viele tolle Stücke wie zum Beispiel der Esstisch mit Stühlen des Hauses Bloemenwerf in Uccle bei Brüssel – die Ikone des Jugendstils –, die in der aktuellen Ausstellung in Zürich zu sehen sind, aber welche man im Jubiläumsjahr zuerst in Weimar gezeigt hat.
Die Engelwache, 1893; Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung; Bild: Museum für Gestaltung Zürich, FX.Jaggy/U.Romito © ZHdK 
Einen Teil seiner Arbeit hat man Kunstgewerbe oder angewandte Kunst genannt. Heute ist das wohl Produktdesign. Zur Architektur kam van de Velde als Autodidakt, aber eigentlich hat er Malerei studiert. In welchem Gebiet war er am stärksten?
Van de Velde war Alleskünstler. Ich könnte nicht sagen, worin er am stärksten war. Auch ein Haus verstand er als Ausdruck einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, als ein System, an dessen Entwicklung alle gleichberechtigt beteiligt sein sollten.

Schon 1895 hat er mit dem Haus Bloemenverf ein demokratisches Design verwirklicht, wo die Diele als Zentrum des Haushalts einen wichtigen Stellenwert einnimmt, es keinen Unterschied zwischen repräsentativen und Alltagsräumen mehr gibt, und wo seine Familie zusammen mit den Dienstboten gegessen hat. Er hat das Abbild des gesellschaftlichen Umbruchs, der erst nach dem zweiten Weltkrieg zu greifen begann, schon vor 1900 realisiert.
Esstisch mit Stühlen für Haus Bloemenwerf, 1895; Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung. Bild: Museum für Gestaltung Zürich, D.Preisig/W.Binder © ZHdK 
Van de Velde hat auch einen Bezug zur Schweiz. 1918 hat er ein Haus in Uttwil am Bodensee gekauft und für ein paar Jahre dort gelebt, und gestorben ist er 1957 in Zürich, wobei er seine letzten zehn Lebensjahre in Oberägeri im Kanton Zug gelebt hat. Wie kam es zu dem Bezug?
Das war Zufall. Van de Velde hatte es in Weimar nicht leicht und fühlte sich als Ausländer – er ist in Antwerpen geboren – nicht wohl, sodass er 1914 seine Kündigung eingereicht hat. Er durfte jedoch nicht aus Weimar ausreisen, weil ihm der Pass abgenommen worden ist, und schliesslich wurde die Situation für ihn unhaltbar: Er war weiterhin Belgier – Deutscher Staatsbürger mit belgischem Pass, so wurde er bezeichnet –, und sollte 1917 zivile Hilfsdienste für Deutschland im Krieg leisten. Gute Freunde haben ihm dann zur Ausreise verholfen, und er kam mit einem vagen Auftrag nach Bern – er sollte sich über die Situation der in die Schweiz emigrierten Künstler orientieren –, entdeckte dann per Zufall das Patrizierhaus in Uttwil, wo es ihm so gut gefiel, dass er eine Künstlerkolonie am Bodensee aufbauen wollte. Sogar Ludwig Kirchner wollte dorthin ziehen. Doch van de Velde erhielt in der Schweiz keine Aufträge und gleichzeitig wurde sein Vermögen in Weimar beschlagnahmt, weil er als Beamter mit Verlassen des Landes steuerpflichtig geworden war.

Als Rettung kam dann 1919 das Angebot des Ehepaars Kröller-Müller aus Arnhem in Holland, für die er Museum und Wohnhaus als eigentlicher Hausarchitekt bauen sollte. Van de Velde hat die Anstellung angenommen, und als die Finanzen der Kröller-Müllers es nicht mehr erlaubten, ihn als Hausarchitekten anzustellen, trat er wieder mit Hilfe einflussreicher Freunde die Professur für Geschichte der Architektur und des Kunsthandwerks an der Universität Gent an. So kehrte van de Velde also 1926 nach Belgien zurück. Dann kam der zweite Weltkrieg. Er war wohl von den deutschen Behörden geachtet, wurde nach Kriegsende aber der Kollaboration mit den Nationalsozialisten bezichtigt, was nicht der Wahrheit entsprach, aber für van de Velde waren diese Anschuldigungen Grund genug, wieder in die neutrale Schweiz zu ziehen, was er 1947 tat. Die schönen Erinnerungen an die Zeit in Uttwil haben sicher auch dazu geführt, dass er in die Schweiz zurückkehren wollte.
Links: Plakat für Tropon-Eiweissnahrung, 1898: Bild © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Rechts: Dekorationsstoff für die Krefelder Textilindustrie, nach 1898; Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung: Bild: Museum für Gestaltung Zürich © ZHdK 
Was ist denn Ihr Bezug zu van de Velde?
Durch meine Arbeit in einer privaten Jugendstil- und Symbolismussammlung habe ich mich für die Epoche begeistert. Die Tatsache, dass van de Velde dann gewirkt hat, hat mich ihm näher gebracht. Man wächst an einem Künstler, wenn man sich mit ihm beschäftigt und heute bin ich begeistert von seinem Werk und liebe zum Beispiel den gewebten Wandbehang die «Engelwache».

Um van de Velde kommt man also nicht herum...
Das stimmt so nicht. Der Sammler, für den ich arbeite, hat sehr breit gefächert gesammelt, besitzt aber gerade nur ein Tablett von van de Velde. Dieser wird wichtiger, wenn man sich mit Designgeschichte befasst.

Wir haben im Studium in der Architekturgeschichte von ihm gehört, da ist er schon eine Grösse.
Ist er das? Ich denke, da spielt der Bezug zum Bauhaus und seine Vorreiterrolle als Gestalter der Moderne eine Rolle. Ich käme nicht um van de Velde herum in meiner Arbeit, aber da bin ich nicht unbedingt repräsentativ.
Wasserkessel mit Rechaud, 1898/99; Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung. Bild: Museum für Gestaltung Zürich, M.Perez © ZHdK 
Nun brauchen wir etwas Nachhilfe in Kunstgeschichte: Gibt es nun den Jugendstil als Epoche? Und welcher Impuls ging davon für die Moderne in der Architektur und in der Gestaltung im Allgemeinen aus?
Der Jugendstil fällt in die Epoche der «Belle Epoque», die von 1871 bis 1914 dauerte. Die Bewegung oder die Periode des Jugendstils grenzt man hingegen zwischen 1885 und 1905 ein. 1871 war der Deutsch-Französische Krieg zu Ende und 1914 begann der Erste Weltkrieg. In dieser Zeit haben die Menschen, vor allem die Deutschen und die Franzosen, eine Periode der nie gekannten Ruhe erlebt. Es gab einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung dadurch, und man lernte neue Materialien kennen: Gebaut wurde mit Stahl und Eisen, und die Elektrizität kam auf und veränderte den Alltag. Alles geriet in Bewegung, und die Menschen haben ihr Leben genossen, das sich fortan auf den Strassen und in den Cafés abspielte. Man ging in Nachtclubs und Salons, und die Zeit der grossen Weltausstellungen sollte stattfinden. Stilistisch war man aber noch im Historismus verhaftet. Und da kommen nun die Künstler ins Spiel, die der Meinung waren, dass die Welt von der Hässlichkeit und von den «abgestorbenen Dekorformen des Historismus» befreit werden sollte.
Frisierplatz aus dem Salon François Haby in Berlin, 1901–1904. Bild: Klassik Stiftung Weimar, Roland Dreßler Binder 
Diese Bewegung fand zeitgleich in verschiedenen Ländern statt und hatte in jedem Land ihren eigenen Namen. In Frankreich hiess sie «L’Art Nouveau» nach der Galerie von Siegfried Bing, die van de Velde 1895 ausstatten durfte. Das Interieur fiel beim Pariser Publikum jedoch noch durch und erntete erst auf der internationalen Kunst-Ausstellung in Dresden Anerkennung. Der französische Jugendstil blieb sehr floral, und hatte keine sozial-reformerische Komponente, wie sie für van de Velde zentral war. Der deutsche Jugendstil hiess so nach der Zeitschrift «Jugend», die in München aufgelegt wurde. Stilistisch wurde das Florale in Deutschland bald von einer strengeren Geometrie abgelöst, und die Künstler hatten zum Ziel, auch dem einfachen Mann ein Leben in einer wertvoll gestalteten Umgebung zu ermöglichen. In England (und Italien) hiess die Periode «Liberty», in Österreich sprach man von der «Secessionsbewegung», und in Spanien hiess sie «Modernista». Allen gemeinsam war das Bestreben, die Welt von der Hässlichkeit zu befreien. Die Periode des Jugendstils war also kurz aber sehr intensiv. Die Künstler wollten die Welt modernisieren und vom Ornament loskommen, Materialgerechtigkeit war damals ein ganz grosses Wort.
Welche Rolle spielte Van de Velde im Jugendstil?
Er hat sich nicht als Jugendstilkünstler empfunden und zum Beispiel nie florales Design entworfen. Van de Velde sah sich selbst als Prophet des «neuen» Stils. Er hatte zudem, wie ich finde, ein sehr ausgeprägtes künstlerisches Empfinden. Und er hat intensiver als andere die Abschaffung des Ornamentes gefordert. Sehr viel vehementer als seine Zeitgenossen strebte er danach, dass die Funktion die Form bestimmen sollte, und zur Untermauerung seiner Forderungen hat er an die hundert Vorträge gehalten und theoretische Schriften veröffentlicht. Er war auch sehr geschickt als Vermittler dieser Ideen. Dazu hatte er eine sehr grosse pädagogische Begabung, was man an der Kunstgewerbeschule in Weimar sehen konnte. Zum Schluss muss man sagen, dass er sehr weitsichtig war, hat van de Velde doch Walter Gropius als seinen Nachfolger der Kunstgewerbeschule, aus der das Bauhaus hervorgehen sollte, vorgeschlagen. Er spielt eine Rolle als Impulsgeber und hat viel losgetreten.

Auf vielen Ebenen, wie man in der Ausstellung sieht.
Ja, auf allen Ebenen. Sei das in der Silber- oder Möbelwerkstatt, oder in der Leuchtenproduktion – eines meiner Lieblingsobjekte ist die elektrische Leuchte, die wir im Bereich «Erholung und Familie» zeigen. Van de Velde konnte hier eine komplett neue Form gestalten, denn sich an alten Gaslampen zu orientieren wäre sinnlos gewesen. Dieses Objekt verkörpert die Auffassung von Design von Henry van de Velde. jk
 
Sabine Panchaud ist Kunsthistorikerin und «diplomée de l’Ecole du Louvre». Seit 2002 erarbeitet sie die wissenschaftlichen Grundlagen einer privaten Jugendstil- und Symbolismussammlung. Unter anderem kuratierte sie in den Jahren 2007 und 2008 die Ausstellungen «Jugendstil – L’air d’un temps» sowie «Daum Gallé Tiffany – Träume aus Glas» im Museum Bellerive in Zürich.

Ausstellung
Henry van de Velde – Interieurs
28. Februar bis 1. Juni 2014
Vernissage, Donnerstag, 27. Februar, 19 Uhr
Museum Bellerive, Höschgasse 3, 8008 Zürich
www.museum-bellerive.ch

Spezialführungen
Donnerstag, 13. März 2014, 18 Uhr
Claude Lichtenstein, Architekt und Kurator
Henry van de Velde und der Traum der Harmonie

Donnerstag, 3. April, 18 Uhr
Janine Schiller, Kulturwissenschaftlerin
Durch Interieurs zur Reform – Raumkunst in Zürich 1906–1918

Donnerstag, 10. April, 18 Uhr
Sabine Panchaud, Kuratorin der Ausstellung
Henry van de Velde und das Handwerk