Wie Umdenken aussehen kann

Jenny Keller
22. febbraio 2018
Südost-Ansicht des NEST mit der neuen Unit UMAR im zweiten Obergeschoss. Bild: Zooey Braun

Die Kleiderberge, einst beim befreienden «decluttering» in einen Caritas-Sack gestopft, stinken zum Himmel, irgendwo auf einem Kleidermüllberg weit weg von hier. Gekauft wurden sie viel zu schnell und zu billig, getragen zu wenig lang – und nun möchte sie auch niemand mehr weitertragen. Man liest ausserdem, dass auch hierzulande Kleiderbörsen schliessen, weil der Aufwand für die Betreiberinnen (meistens sind es Frauen, die Kleider tauschen, weshalb das so ist, ist eine andere Frage) zu gross ist und neue Kleider für die Kunden zu billig zu haben sind. Doch zu welchem Preis leisten wir uns diesen Überfluss an Körperbedeckung?

In Dübendorf an der Überlandstrasse haben dank drei Männern ein paar geschredderte Jeans ein neues Leben als Dämmstoffplatte eines temporären, sehr speziellen Gebäudes gefunden. Das Konzept dazu stammt von Werner Sobek, Dirk E. Hebel und Felix Heisel. Werner Sobek ist Leiter des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren der Universität Stuttgart und Gründer der gleichnamigen Unternehmensgruppe. Dirk E. Hebel ist Leiter und Felix Heisel Forschungsverantwortlicher des Fachgebiets Nachhaltiges Bauen am KIT Karlsruhe und des Future Cities Laboratory am Singapore-ETH Centre. Davor war Hebel lange Jahre Assistent bei der Professur Angélil der ETH Zürich, anschliessend selbst Assistenzprofessor. Sein Entscheid, den Vertrag an der ETH nicht zu verlängern, löste damals einige Fragen aus.

An der Empa, der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt, sucht man nach Antworten zur Nachhaltigkeit im Gebäudebereich. Im modularen Forschungs- und Innovationsgebäude NEST (Next Evolution in Sustainable Buildung) von Gramazio & Kohler –eigentlich ein fixer Kern mit weit auskragenden Betonscheiben, die Forschern und der Industrie als Ablage dienen – werden unterschiedliche Wohn- und Arbeitseinheiten, sogenannte Units, im Massstab 1:1 deponiert und für rund fünf Jahre getestet. Das Bauwesen sei nicht der innovativste Sektor, sagt Peter Richner, Verantwortlich für NEST an der Empa. Das will er ändern.

Die Installation der Unit. Bild: Wojciech Zawarski

Rekordzeit
In nur drei Jahren wurde aus der ursprünglichen Idee, die auf Hebels Buch «Buildung from Waste» zurückgeht, die jüngste NEST-Unit «Urban Mining & Recycling», kurz UMAR, mit der eingangs beschriebenen Jeans-Dämmung. Dirk E. Hebels These «in a Nutshell»: Es wird im Baugewerbe zu viel vernichtet. Dagegen forscht er an und will an der Empa den Beweis in der Praxis liefern, dass es auch anders geht. Auch Werner Sobek verfolgt das Ziel, dass das Bauen mit viel weniger Material- und Energie-Einsatz gelingt. 

In Dübendorf demonstrieren sie nun zusammen mit Felix Heisel, wie das gehen soll. Jegliche Elemente von UMAR, die über zwei Schlafzimmer, zwei Bäder und einen grossen Aufenthaltsraum mit Kochinsel verfügt, können nach dem Rückbau vollständig und sortenrein (ein Wort, das wir hier im Zusammenhang noch ein paar Mal hören werden) wieder- oder weiterverwendet, rezykliert oder kompostiert werden. Das Experiment an der Empa soll gemäss Felix Heisel genau das nachweisen – etwas, das bei einem Gebäude mit längerer Lebenszeit nicht machbar ist. Die komplette Unit wurde im Werk vorfabriziert und innerhalb eines Tages ins Forschungsgebäude auf dem Empa-Campus in Dübendorf eingebaut.

Das Tragwerk sowie grosse Teile der Fassade bestehen aus unbehandeltem Holz – zugunsten einer sortenreinen (!) Wiederverwertung oder Kompostierung. Innovativ sind die Verbindungen: Auf Klebeverbindungen wird zugunsten von Steck- und Schraubverbindungen verzichtet, damit alle Elemente problemlos rückgebaut und, man ahnt es, sortenrein rezykliert werden können. Der Teppich im einen Schlafzimmer, der nirgends verklebt ist, wurde geleast. Seine Fasern werden dem Hersteller nach Gebrauch zurückgegeben. Der Spiegel im Bad ist kein herkömmliches Modell, er  besteht aus poliertem Edelstahl, die Küchenabdeckung ist aus Altglas. Die Leuchten, die magnetisch befestigt werden können, stammen vom Hersteller Nimbus und sind anders als ihre marktüblichen Pendants nicht lackiert. Gewisse Materialien können auch gemäss ihrem Ursprungsnutzen ein zweites Leben erhalten, so stammen die Messingtürklinken aus einem 1970er-Jahre Bankgebäude aus Brüssel. Echte Patina und Geschichte inbegriffen.

Innenansicht der Unit UMAR. Bild: Zooey Braun

Umdenken
Die Verfasser von UMAR plädieren ganz klar für ein Umdenken im Bauwesen. Sie denken das weiter, was der Club of Rome schon 1972 prognostiziert hat: Das Wachstum ist begrenzt. Wir können nicht auf diesem grossen Fuss weiterleben. Doch passiert ist seither nichts, im Gegenteil. Und wenn man Peter Sobek zuhört, könnte man meinen, er beschwöre eine Dystopie herauf: Die gebaute Umwelt stehe für rund 55 bis 60 Prozent des Ressourcenverbrauchs (Material) weltweit und in Zentraleuropa für fast 60 Prozent des Müllaufkommens. Würde man die Menge an Baustoffen, die wir hierzulande verbrauchen, auch an andere Gebiete der Welt, wo noch sparsamer gebaut wird, «christlich» verteilen wollen, ginge das nicht. Es sei schlicht und einfach zu wenig Baustoff vorhanden.

Doch Werner Sobek gehört nicht zu den Zukunftspessimisten. Er hat sich dem Thema der Suffizienz voll und ganz verschrieben und baut seit dem Jahre 2000 jedes Jahr ein vollrezyklierbares Haus, das sich selbst mit Energie versorgen kann. Sein eigenes Haus R128 in Stuttgart hat den Anfang der Serie gemacht. Die kleine Einheit UMAR im Nest ist sein jüngste Werk in der Reihe. Beide sind nicht bescheiden, keine dogmatisch wirkenden «Tiny-Houses» und sehen nicht nach strenger Diät- oder Recycling-Architektur aus, bezogen auf Raumhöhen, Platzverbrauch und Innenausbau. Und genau hier setzt Sobek an, wenn er sagt: Nachhaltige Architektur müsse immer wunderschön sein, sonst werde sie weder geliebt und noch gepflegt. Da wären wir bei den Kleiderbergen zu Beginn: Ein geliebtes Kleidungsstück erhält Pflege, die Lieblingsjeans werden geflickt – nicht weggeworfen.

Ansicht der Wand aus wiederverwerteten Materialien. Bild: Zooey Braun

Schönheit liegt in den Augen des Betrachters, mag man anmerken, und wir haben es hier mit einem entwerfenden Ingenieur zu tun – aber: Die UMAR-Unit dürfte ihren künftigen Bewohnern (zwei Studierende dürfen einziehen und Teil des Experiments werden) Freude machen, sie ist sorgfältig gestaltet, optisch, haptisch und olfaktorisch. Über die Lage kann diskutiert werden, aber die Empa liegt nun mal, wo sie liegt. Sie hat mit dem Zwicky-Areal auf jeden Fall auch experimentelle Nachbarn – vielleicht wird Dübendorf von der Autorin einfach unterschätzt.


Materialbibliothek
Geht es nach Dirk E. Hebel, sollen Gebäude künftig nicht nur Wohn- oder Arbeitsraum sein, sondern als Materiallager für künftige Generationen dienen. Verbaute Ressourcen sollten kartografiert werden, und es müssten Unterlagen bestehen, damit man bei einem Rückbau sieht, wie viel von welchen Materialien einer Neuverwertung zugeführt werden können. Ein Anfang macht die online Materialbibliothek von UMAR.
 

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