Abschied von Lio, dem enthusiastischen Macher

Elias Baumgarten, Nadia Bendinelli
13. de desembre 2021
Aurelio Galfetti wurde 1936 in Biasca geboren. Er verstarb in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember 2021 in Bellinzona. (Foto: Paolabonini via Wikimedia Commons, CC BY 3.0)
«Galfetti era un buono, un appassionato che non metteva in primo piano il suo essere un creativo, era un compagno di viaggio nelle avventure e nelle disavventure che capita di vivere all’uomo comune: era molto modesto, umile, e questo forse era l’aspetto che lo faceva maggiormente sentire vicino agli studenti.»

Mario Botta

«Du hast die Fähigkeit, den Raum zu lesen und zu interpretieren: Architektur ist das Richtige für dich!» – das sagte ein älterer Freunde zu Galfetti, der sein Talent bereits früh erkannt hatte. Was «Raum» überhaupt bedeutet, war dem Gymnasiasten Lio damals allerdings noch ein Rätsel. Gut zeichnen konnte er aber, und so schien ihm diese Idee sinnvoll. Ausserdem hatte er wenig Freude am Lernen: Statt dem Unterricht zu folgen, erinnerte er sich später, schaute er lieber aus dem Fenster. Zeit mit seinen Freunden zu verbringen, war im wichtiger, als sich um seine Schularbeiten zu kümmern. Kurzum, das Architekturstudium an der ETH Zürich versprach – ganz nach seinem Geschmack – kurz und einfach zu werden. Vor allem kurz: Das nötige Geld bekam er von seinem Vater, und allzu lange wollte er von diesem gewiss nicht abhängig sein. 

Ein fleissiger Student war Lio nicht. Unter den Tessinern, die damals in Zürich studierten, war nämlich die Idee verbreitet, es sei besonders lässig, den Abschluss zu schaffen, ohne sich gross an der Uni blicken zu lassen. Natürlich ging dieser Plan nicht auf: Im siebten Semester fiel Galfetti durch wichtige Prüfungen. Sein Professor zitierte ihn zu sich. «Sie sehen nicht so blöd aus, wie Sie tun», sagte er. «Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, die Abschlussprüfung trotzdem zu versuchen.» Doch Galfetti, der wenig aus seinem bisherigen Studium mitgenommen hatte, fühlte sich überfordert, wusste nicht recht, was er überhaupt tun sollte. «Wenn man nicht weiss, was man tun soll, dann kopiert man am besten von einem, der wirklich gut ist», meinte sein Professor. Das einzige Fachbuch, das Galfetti zu diesem Zeitpunkt besass, war über Le Corbusier. Damit machte er sich an die Arbeit – ein Wendepunkt in seinem Leben. Er begann, Le Corbusier zu bewundern. Sein Interesse an der Architektur war geweckt. Le Corbusier wurde Galfettis grosses Vorbild – und blieb es über seine ganze Karriere hinweg. Mario Botta sagte gerade in einem Radiointerview mit dem Tessiner Sender RSI anlässlich von Galfettis Tod, man erkenne dies in jedem einzelnen seiner Bauwerke. Gerne hätte Galfetti direkt vom Meister gelernt. Er reiste dafür nach dem Studium nach Paris. Doch dann traute er sich nie, Le Corbusier nach einer Stelle zu fragen. Er entschied sich, ins Tessin zurückzukehren, wo er 1960 ein eigenes Büro gründete. Im Nachhinein sah Galfetti sein Studium in Zürich als vergebene Chance. Erst nach der Ausbildung begann er, sich vertieft mit Architektur auseinanderzusetzen. Er baute einen enormen Wissensschatz auf. Später galt der einst nachlässige Student als intellektueller Architekt.

«La fortuna è passata dal Ticino»

Im Südkanton gab es schon immer gute Architekten. Doch Galfetti schaffte es zusammen mit Mario Botta, Flora Ruchat-Roncati (1937–2012), Luigi Snozzi (1932–2020) und Livio Vacchini (1933–2007) sowie weiteren Gleichgesinnten, eine eigene Tessiner Architekturrichtung zu etablieren, die nicht nur schweizweit, sondern international grosse Anerkennung fand. Später erklärte sich Galfetti den grossen Erfolg in seiner charakteristischen Bescheidenheit damit, dass die 1960er-Jahre eine Zeit des Aufbruchs waren, in der neue Ideen geradezu herbeigesehnt wurden.

Aurelio Galfetti war Gestalter mit Leib und Seele. Er lebte und atmete Architektur. Sie war ihm Beruf und liebstes Hobby zugleich. Weggefährte Mario Botta zeigte sich immer wieder tief beeindruckt von seiner Hingabe. Galfettis Interesse galt dem grossen Massstab. Die Essenz der Architektur lag für ihn in der Entwicklung von lebenswerten, menschenfreundlichen Räumen mit hoher Aufenthaltsqualität. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, sollte jeder Aspekt der Umgebung berücksichtigt werden. Galfetti war wichtig, topografische, vor allem aber gesellschaftliche, soziale und politische Gegebenheiten zu beachten und künftige Entwicklungen zu antizipieren. Die Umsetzung dieser gemeinsamen Vision der Vertreter der Tessiner Schule gelang Luigi Snozzi in Monte Carasso mit der Unterstützung des Kantons und der Bevölkerung in besonderem Masse. Das Projekt nimmt auch eine Sonderstellung ein, weil im Tessin – wie in der ganzen Schweiz – das eigene Haus und das eigene Grundstück vielen als heilig gelten. Diese Einstellung macht es Architekturschaffenden bis heute gerade in ländlicheren Regionen schwer, urbanistische Projekte, die allen zugutekommen sollen, zu verwirklichen.

Aurelio Galfetti, Restauration des Castelgrande, Bellinzona, 1981–2000; das Projekt ist aktuell Teil der Ausstellung «Beton» im Schweizerischen Architekturmuseum. (Schnitte: Archivio del Moderno, Fondo Aurelio Galfetti)
In den Festungsmauern von Bellinzona (Foto: Elias Baumgarten)
Architektur für die Menschen, die Stadt und die Region

Galfetti gestaltete im Laufe seiner Karriere über achtzig Projekte. Schon früh beschäftigte er sich mit Bauten für die Gemeinschaft – mit Schwimmbädern, Schulen und Spitälern. Das Freibad von Bellinzona (1967), das er gemeinsam mit seinen zeitweiligen Büropartnern Flora Ruchat-Roncati und Ivo Trümpy entwickelte, gilt als erste Manifestation der architettura territoriale überhaupt. Die über 500 Meter lange Anlage durchzieht das Gelände axial und verbindet das Stadtgebiet mit dem Fluss Ticino. Über Treppen gelangt man von der Stahlbeton-Fussgängerbrücke zum Liegebereich hinab. In der Ausgestaltung der Architektur ist der Bezug zu Le Corbusier unmittelbar erkennbar. Schreitet man die langgezogene Brücke ab, hat man einen schönen Blick auf die Tessiner Berge, während die Liegewiesen und Schwimmbecken bereits wie ein Teil der Naturlandschaft rundherum wirken.

In Bellinzona befindet sich auch ein weiteres Schlüsselwerk, möchte man Galfettis Haltung verstehen: die Restauration des Castelgrande (1981–2000). Der Eingriff, der heute als grossartige Leistung und vorbildlich im Umgang mit historischer Substanz gilt, wurde zu seiner Entstehungszeit kontrovers diskutiert und stiess in der Bevölkerung auf Ablehnung. Die Bellinzonesi beobachteten die Transformation des grössten ihrer drei Schlösser mit Skepsis, nicht wenige waren irritiert. Doch Galfetti erklärte, die Anlage sei nie als Gesamtheit geplant worden, sondern langsam durch das Hinzufügen immer neuer Teile entstanden. Darum war für ihn klar, dass eine neuerliche Anpassung in einer zeitgenössischen Architektursprache erfolgen musste, sollte sie dem Charakter des Schlosses als Konglomerat verschiedener Zeitschichten gerecht werden. Konservieren bedeutete für ihn weiterzubauen. Mario Botta erinnert sich, Galfetti habe stets die Augen verdreht, wenn Kollegen fanden, man dürfe historische Bauten nicht antasten und müsse sie für alle Zeit exakt in ihrem gegenwärtigen Zustand erhalten. Diese Haltung passte zu seinem Charakter: Lieber beschäftigte sich Galfetti mit der Zukunft, statt in einer verklärten Vergangenheit zu schwelgen. 

«Vergangenheit ist vergangen, man kann sich aber immer verbessern.»

Aurelio Galfetti

Eng verbunden ist Galfettis Name mit der Entwicklung der Neuen Eisenbahntransversale (Neat). Er war Präsident einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, die ein Konzept für das Projekt entwickelte. Gemeinsam mit Botta, Snozzi und Vacchini verfasste er ausserdem einen Brief an das Consiglio di Stato, in dem sie forderten, die Route als Gesamtheit zu begreifen und nicht als Summe unabhängiger Einzelprojekte. Galfettis Vision stiess anfangs auf Begeisterung, um am Ende aufgrund von Partikularinteressen doch verwässert zu werden. Schweizweit, ja sogar international viel beachtet wurde später auch sein Diplomkurs «AlpTransit» (2008). In diesem wurden die Veränderungen des Raums der sogenannten «Città Ticino» durch den Bau der Stecke untersucht. Aus seinem gesamten Engagement bei der Entwicklung der Anlage spricht Galfettis Vision, das Tessin als Einheit zu entwickeln. Auch führt es beispielhaft vor, worum es ihm immer ging: die vielschichtige Beziehung zwischen Architektur, Raum und Landschaft.

Accademia di Architettura – Aufbau einer herausragenden Architekturschule

Schon 1984 begann Galfetti zu unterrichten. Zunächst erhielt er eine Gastprofessur in Lausanne, 1987 dann auch eine in Paris. Zusammen mit Mario Botta gründete er 1996 die Accademia di Architettura in Mendrisio. Bis 2001 war er Direktor der Schule. Botta und er waren der Überzeugung, das Tessin brauche unbedingt eine eigene Architekturschule und eine Öffnung gen Italien und Europa. Sie störten sich am Tessiner Kantönligeist, daran, dass die Region wie ein abgeschlossener Mikrokosmos funktioniert. An der Accademia sollten Generalisten ausgebildet werden. Botta und Galfetti wollten Architektinnen und Architekten heranziehen, die wissen, wie man ein Projekt tatsächlich umsetzt, statt nur mit dem 5B-Bleistift Entwürfe zu zeichnen; Architektinnen und Architekten, die allen Aspekten des territorio gerecht werden; Architektinnen und Architekten, deren Fokus nicht auf dem einzelnen Objekt, sondern dem ganzen Dorf, der ganzen Stadt und der ganzen Region liegt. Oder mit Luigi Snozzi: «Baust Du einen Weg, ein Haus, ein Quartier, dann denke an die Stadt!»

Die Rechnung ist mehr als aufgegangen: Heute ist die Accademia eine hervorragende Architekturschule, die internationale Aufmerksamkeit geniesst. Mittlerweile kommen Studierende aus aller Herren Länder ins Tessin, um sich ausbilden zu lassen.

Bescheidenheit und Hingabe

In den letzten Tagen hat wohl bald jede Zeitung, jeder Fernsehsender, jede Onlineplattform, jede Kulturinstitution und jeder Verlag im Tessin über den Tod und das Leben von Aurelio Galfetti berichtet. Die Anteilnahme ist enorm. Als einer der relevantesten Architekten der Region bezeichnet, fallen aber umso mehr die persönlichen Züge auf. In zahlreichen Nachrichten, Nachrufen und Interviews berichten einstige Kollegen, Studenten und Weggefährten von seiner grossen Bescheidenheit, seiner Begeisterung und seiner Hingabe. Er sei «un buono» gewesen, heisst es immer wieder. Aurelio Galfetti selbst sah sich als Macher, Handarbeiter, Eklektiker (so hatte ihn einmal ein Kritiker zu seiner grossen Freude genannt) und Generalisten. 

Aurelio Galfetti. Costruire lo spazio

Aurelio Galfetti. Costruire lo spazio
Franz Graf
Erschienen 2021

240 x 280 Millimeter
160 Pàgines
128 Illustrations
ISBN 9788836648689
Mendrisio Academy Press
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