Wildnis im Schloss

Susanna Koeberle
19. de maig 2020
Der barocke Prunkraum verwandelt sich in Wildnis. (Foto: Lupi Spuma)

Die Ausstellung abzusagen, kam für sie nicht in Frage. Schon zu weit fortgeschritten waren die Vorbereitungen. Und das Thema schien zudem wie gemacht für die aktuelle Krise. Mit «Walden» öffnet Alice Stori Liechtenstein zum fünften Mal ihr Domizil für eine Designausstellung, die zugleich auch als Förderplattform dient. Im Vorfeld bestimmt die Designkuratorin und Ausstellungsgestalterin ein Thema und lädt verschiedene Nachwuchsdesigner*innen ein, eine Arbeit einzureichen. Dabei hält sie das Briefing bewusst relativ offen. Vier Designer*innen kommen zudem in den Genuss eines rund zweiwöchigen Residency-Programms, das jeweils im Sommer nach der Ausstellung stattfindet. Während der Dauer ihres Aufenthaltes wird mehr konzeptuell gearbeitet und viel diskutiert, auch danach findet ein Austausch mit der Designkuratorin statt. Es sollen jeweils Werke entstehen, die auf die ungewöhnliche Örtlichkeit Bezug nehmen. 

Das Schloss «Hollenegg» ist ein Ensemble, dessen Ursprünge ins 12. Jahrhundert zurückreichen. Im Verlauf der Jahrhunderte veränderten die nachfolgenden Besitzer den mittelalterlichen Bau. Bis heute sind die unterschiedlichen Epochen und Baustile in den Gebäudeteilen sichtbar. Die beiden Türme stammen aus dem 14. Jahrhundert, Ende des 16. Jahrhunderts wurde der Innenhof in einen typischen Renaissancehof umgebaut, später wurden daraus zwei Höfe. Die Kirche im zweiten Innenhof ist ein Barockbau, ebenso die Prunkräume des ersten Stockwerks. Im oberen Stock überwiegt Neogotik, im 19. Jahrhundert wurde schliesslich eine Terrasse angebaut. «Jede Generation hat etwas dazugebaut und komischerweise funktionieren diese unterschiedlichen Schichten gut miteinander», sagt die heutige Schlossherrin und Designspezialistin. 

Die Arbeit von Marianne Drews wurde ausserhalb des Schlosses platziert. (Foto: Lupi Spuma)

Das Motto «Walden» fokussiert auf unsere Beziehung zur Natur. Wichtig war Stori Lichtenstein auch, das Thema Ökologie anzuschneiden, denn sie entdeckt unter jungen Designpositionen immer wieder spannende Arbeiten, die sich damit auseinandersetzen. Zugleich sollte dieses brisante Thema nicht mit einer Fingerzeigehaltung abgehandelt werden. Es sollte nicht um Verzicht oder Verbote, sondern um eine neue Sicht auf unsere natürliche Umgebung gehen. «Natur wird häufig entweder als Ressource wahrgenommen, bei der wir uns einfach bedienen können, oder sie wird als Idylle romantisiert. Ich wollte erreichen, dass wir uns in die wilde und ungemütliche Seite der Natur verlieben», berichtet die Kuratorin am Telefon. Wichtig sei ihr auch gewesen, die Trennung zwischen Stadt und Land, drinnen und draussen oder Natur und Künstlichkeit aufzuheben. Denn diese Dichotomien sitzen tief und prägen unser Weltbild wesentlich. Welchen Schaden wir mit dieser Sicht angerichtet haben, haben in den letzten Jahren auch Philosophen wie Timothy Morton auf eindrückliche Weise gezeigt. Das anthropozentrische Weltbild zu hinterfragen, kann auch Aufgabe von Design sein. Für Stori Lichtenstein kann Design einerseits ganz praktische Lösungen für aktuelle Probleme bieten (etwa durch neue Materialien), andererseits durch ein eigenes Narrativ auch neue Ideen liefern und zum besseren Verständnis unserer Welt beitragen.

Die Schlossherrin und Kuratorin in ihrem Element. (Foto: Lupi Spuma)

Die geladenen Designer*innen (19 an der Zahl, darunter einige Duos) liessen sich von diesen Vorgaben zu spielerischen und tiefsinnigen Projekten inspirieren. Einige Arbeiten entstanden während der Corona-Krise und bestehen aus Materialien, welche die Designer*innen gerade zur Hand hatten. Dass trotz dieser Beschränkung kreative Ideen zustande kamen, beweist, wie wenig es manchmal braucht, um «glücklich zu leben», so Stori Liechtenstein. Das Motto ist einem Buchtitel entlehnt. In «Walden» (1854) beschreibt der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau sein Leben in einer Hütte im Wald. Das Buch wurde zu einem Klassiker der Aussteigerliteratur. Spannend an dieser Referenz findet Stori Lichtenstein, dass Thoreau nach zwei Jahren Waldleben in die Zivilisation zurückkehrte. Das Wort könne auch als Tätigkeitswort gelesen werden, meint sie. Schon das könnte ein Schritt sein zu mehr Empathie gegenüber unserer natürlichen Umwelt. Bei «ich walde» spricht zwar immer noch ein Subjekt, doch dieses verschmilzt gewissermassen mit dem Gegenstand der Tätigkeit. 

Die Leuchte von Klemens Schillinger muss mit einer Kurbel durch körperliche Betätigung aufgeladen werden. (Foto: Lupi Spuma)

Die Bandbreite der Arbeiten reicht von Objekten wie einer handbetriebenen Lampe (Klemens Schillinger) über Textilien (wie der Teppich von Marlène Huissoud oder die Tapete von Charlap Hyman & Herrero) bis zu Forschungsarbeiten (Studiotut) oder Materialrecherchen (crafting plastics! studio). Die Objekte sind in den Räumen, im Hof und um das Schloss verteilt. Einer der Prunkräume wurde in ein kleines Indoorbiotop verwandelt. Dank eines gut gestalteten und einfach handzuhabenden digitalen 3D-Rundgangs, können Interessierte nun diese Objekte im Schloss erkunden. Bei einzelnen Stationen geben die Designer*innen in kurzen Filmen persönlich Auskunft über ihre Arbeit. Die virtuelle Tour ersetzt den Besuch von «Walden» wohl nicht, aber macht die Ausstellung einem breiten Publikum zugänglich. 

crafting plastic! studio hat ein biologisch abbaubares Material mit kunststoffähnlichen Eigenschaften entwickelt. Daraus schufen sie Fensterscheiben. (Foto: Lupi Spuma)

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