Behaglicher Industriecharme

Studio Gugger | 24. Januar 2025
Die Faserzementplatten der Fassaden des Kesselhauses sind ein Verweis auf die industrielle Vergangenheit des Quartiers. Einst war das Kunzareal die größte Anlage der Schweizer Textilindustrie. (Foto: © Daisuke Hirabayashi, Studio Gugger)
Herr Schmidt, Herr Gugger, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Harald Schmidt: Um 1900 war das Kunzareal in Windisch die größte Anlage der Schweizer Textilindustrie. Heute wird dort gelebt und gearbeitet. Die Umnutzung des Industriegeländes ist seit langem im Gange und findet nun ihren Abschluss. Mittlerweile hat sich auf dem Areal ein Bedarf an Kleinwohnungen ergeben: Eltern, deren Kinder inzwischen aus dem Haus sind, möchten aus ihren Familienwohnungen in kleinere Wohnungen wechseln.

Unsere Aufgabe war es, im Konglomerat von umgenutzten historischen Industriebauten und neuen Wohnhäusern einen verbindenden Beitrag zu leisten. Wir ersetzten das ursprüngliche Kesselhaus und entwickelten den geschichtsträchtigen Ort mit einer zeitgenössischen Wohnform.

Das Kesselhaus fügt sich als letzter Baustein selbstverständlich zwischen die historischen Industrieanlagen. (Foto: © Daisuke Hirabayashi, Studio Gugger)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Harry Gugger: Der sorgfältige Umgang mit der Industriegeschichte, die auf dem Kunzareal allgegenwärtig ist, hat den Entwurfsprozess geprägt. In seinem architektonischen Ausdruck soll unser Neubau dank seiner Robustheit an einen Industriebau erinnern. In seiner Feingliedrigkeit strahlt er gleichzeitig einen wohnlichen Charme aus.

Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Harry Gugger: Die direkte Umgebung hat den architektonischen Entwurf stark beeinflusst. Entscheidend für die von uns gewählte städtebauliche Setzung waren die ursprüngliche Proportion des Kesselhauses, die Volumetrie der Nachbarbauten und die durch den Abriss der Vorgängerbauten des Kunzwerks in den 1960er-Jahren entstandene Öffnung des Areals, welche die Raumachse der Dorfstrasse bis zum Giessplatz erweitert. Der dem Gebäude vorgelagerte Platz wird so zum würdigen Auftakt des Areals und zum sozialen Treffpunkt für die Bewohnenden.

Die Materialwahl der Fassadenverkleidung schlägt eine weitere Brücke zum geschichtlichen Ursprung: Dem industriellen Charakter entsprechend kamen als unprätentiöses Material vorfabrizierte Faserzementplatten zum Einsatz. Ihre gewellte Oberfläche erinnert optisch an einen textilen Vorhang. Zudem haben wir Fensterstoren und Außenvorhänge als textilen Sonnenschutz eingebaut. Deren Gelbton nimmt farblich den Dialog mit den umliegenden historischen Gebäuden auf.

Die Fassadenverkleidung aus farbigem Welleternit erzeugt im Zusammenspiel mit der einfach lesbaren Konstruktion aus leicht geschwungenen Balkonen und konischen Betonstützen ein lebendiges Fassadenbild. (Foto: © Daisuke Hirabayashi, Studio Gugger)
Inwiefern haben die Bauherrschaft oder die Nutzenden den Entwurf beeinflusst?


Harald Schmidt: Da wir über einen Sieg im Gesamtleistungswettbewerb zu der Bauaufgabe kamen, waren große Teile des Entwurfs und der Planung von Anfang an definiert. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Nachbarbauten auf dem Kunzareal wurden hinsichtlich der Erdgeschoss- und Außenraumnutzung über einen Mitwirkungsprozess in die Gestaltung einbezogen. Die Wünsche der Menschen – zum Beispiel gestaltete Sitzflächen im Außenbereich oder ein Gemeinschaftsraum mit Küche – konnten erfüllt werden.

Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihres Büros ein?


Harry Gugger: Wie immer sind wir unserem Leitsatz des »Prudent Pragmatism« gefolgt: Auch dieses Projekt versucht mit bescheidenen Mitteln einen größtmöglichen Effekt zu erzielen. Trotz des Einsatzes von althergebrachten, einfachen Materialien sollte eine elegante Anmutung entstehen.

Die Innenräume der 2.5-Zimmer-Wohnungen sind durch den Einsatz von Holz geprägt. Durch die Holzrippendecke und den Eichenparkettboden erhalten die Wohnungen eine warme, wohnliche Atmosphäre. (Foto: © Daisuke Hirabayashi, Studio Gugger)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


Harald Schmidt: Eine Herausforderung bestand darin, das Gebäude möglichst rasch zu realisieren. Wir konnten sie durch konstruktive und gestalterische Maßnahmen meistern: Dank des gerastert geplanten Grundrisses konnten nahezu alle Elemente vorfabriziert werden, was wiederum eine sehr zügige Montage auf der Baustelle ermöglichte. Durch konsequent übereinander angeordnete vertikale Tragwerkselemente, die schlüssig und symmetrisch gestaltet sind, konnte der Bauprozess zusätzlich vereinfacht werden.

Energetisch ist das Kesselhaus mit einer modernen Photovoltaikanlage auf dem Dach ausgerüstet. Außerdem wurde es an das bestehende Fernwärmenetz angeschlossen.

Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?


Harry Gugger: Das Gebäude wurde als Holz-Hybrid-Bau geplant. Beton und Holz sind dabei jeweils an den Stellen eingesetzt, für die sie aufgrund ihrer Materialeigenschaften prädestiniert sind. Außen trägt der Sichtbeton der leicht gerundeten Balkonplatten und fein geschalten konischen Stützen zum filigranen Fassadenbild bei. Der industrielle Charakter der Fassaden wird im Innenraum durch das Material Holz mit einer wohnlichen Atmosphäre kontrastiert. Die Idee einer offenen Holzrippendecke im Verbund mit Beton ermöglichte zudem eine größere Raumhöhe der Wohnungen. 

Situation (© Studio Gugger)
Grundriss Regelgeschoss (© Studio Gugger)
Längsschnitt (© Studio Gugger)
Wohn- und Atelierhaus Kesselhaus
2024
Kunzareal, Alte Spinnerei 8b, 
5210 Windisch, Kanton Aargau, Schweiz
 
Auftragsart
Gesamtleistungswettbewerb im eingeladenen Verfahren, 1. Preis
 
Bauherrschaft
HIAG Immobilien Schweiz AG
 
Architektur
Studio Gugger, Basel
Projektleitung: Harry Gugger, Harald Schmidt und Aurelia Müggler 
Mitarbeit: Flavia Geyer
 
Fachplaner
Landschaftsarchitektur: Berchtold.Lenzin Landschaftsarchitekten, Basel
Tragwerk Massivbau: MWV Bauingenieure AG, Baden
Tragwerk Holzbau: Erne AG Holzbau, Stein
HLKS-Planung: Inneva AG, Frick
Elektroplanung: IBG Engineering AG, Baar
Brandschutzplanung: ERNE AG Holzbau, Stein
 
Bauleitung 
Totalunternehmer: ERNE AG Holzbau, Stein
 
Fotos
Daisuke Hirabayashi, Basel

Vorgestelltes Projekt 

Pfister Klingenfuss Architekten AG

Wohnüberbauung Scheidgasse

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