Das Haus mit den zwei Gesichtern

Allemann Bauer Eigenmann Architekten
9. März 2023
Das zweigeschossige Haus fasst den bestehenden Pausenplatz und bildet den baulichen Abschluss des Campus nach Süden. Jeweils zwei Primarschulklassen haben am Platz ihren eigenen Eingang. (Foto: Andrea Helbling)
Herr Allemann, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Weil es sich um einen Erweiterungsbau handelt, umfasste das Raumprogramm fast ausschliesslich Unterrichtsräume – gemeinschaftlich genutzte Räume wie die Aula waren in der bestehenden Schulanlage bereits vorhanden. Zudem sollten Primarschule und Kindergarten räumlich getrennt sein und über separate Eingänge verfügen. Die Herausforderung war, diese Vorgaben in einem einzigen Gebäude zu lösen und dennoch für beide Nutzungen eine eigene Identität zu schaffen. 

Dies gelingt einerseits über die verschiedenen Aussenräume und andererseits durch die spezifisch entwickelte Typologie: Die Unterrichtsräume der Primarschule sind direkt vom bestehenden Pausenplatz erschlossen. Jeweils zwei Klassen verfügen über einen gemeinsamen Eingang mit Garderobe im Erdgeschoss. Von dort führt eine L-förmige Treppe zu den Klassenzimmern im Obergeschoss. Die vom Parterre abgehobene Lage gewährleistet einen vom Pausenplatzbetrieb entkoppelten, konzentrierten Unterricht. Durch die Rückstaffelung des Volumens ist auch der Kindergartenaussenraum auf der Südseite des Hauses nicht einsehbar. Alle drei Kindergärten sind im Erdgeschoss südseitig angeordnet und jeweils mit eigenem Eingang direkt von aussen erschlossen. Auf einen gedeckten Vorbereich folgen die Garderobe und das Klassenzimmer. Mit den zwei Eingangsseiten zeigt das Haus den Schul- und Kindergartenkindern ein jeweils unterschiedliches Gesicht.

Der Aussenraum des Kindergartens ist durch die Geräteschuppen kleinteiliger gegliedert. Das zurückgestaffelte Obergeschoss schafft eine differenzierte Massstäblichkeit gegenüber der Nordfassade und bewirkt einen pavillonartigen Ausdruck. (Foto: Andrea Helbling)
Eine von insgesamt drei Primarschul-Garderoben im Erdgeschoss. Farbige Keramikfliesen dienen in den Erschliessungsräumen als robuste Wand- und Sockelverkleidungen. (Foto: Andrea Helbling)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Jede Schule stellt ideell wie funktional ein Gemeinwesen dar, das eines architektonischen Rahmens bedarf. In diesem Sinne interpretieren wir die Schulanlage als «Dorf im Dorf» – mit identitätsstiftenden öffentlichen Orten im Zentrum und daran angelagerten Quartieren, welche die individuellen Unterrichtsräume beinhalten. Das Klassenzimmer bildet die räumliche Konstante innerhalb dieses Organismus. Während der alte Begriff «Schulstube» den noch immer wichtigen privaten Charakter dieses Raumes verdeutlicht, ist das zeitgenössische Klassenzimmer heute auch Lernwerkstatt. Diese ist für verschiedene Unterrichtsformen dimensioniert und proportioniert, mehrseitig belichtet und durch zuschaltbare Gruppenräume erweiterbar. 

Der «Raum dazwischen» ist jedoch genauso wichtig wie die einzelnen Klassenzimmer. Durch seine programmatische Unbestimmtheit bietet er im Entwurfsprozess sogar das grössere Potenzial als die in Anzahl und Fläche meist vorgegebenen Unterrichtsräume. Als Erschliessungsfigur verbindet er einerseits alle übrigen Räume und dient dabei als informeller Begegnungsort auch der sozialen Vernetzung innerhalb des Gemeinwesens. Andererseits bietet er polyvalenten Platz für Gruppenarbeiten, aber auch für individuelles Lernen.

Eine Treppe verbindet die Garderobe mit den Klassenzimmern im Obergeschoss. Die überall in der Erschliessung verteilten stilisierten Tierfiguren sind Bestandteil des Kunstprojekts «Vielfalt» von Joëlle Allet. (Foto: Andrea Helbling)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Das Areal des Schulzentrums Oberhofen hat mit seinen gruppierten Einzelbauten und den mächtigen Solitärbäumen im stark durchgrünten Aussenraum einen campusartigen Charakter. Mit der Erweiterung sollte diese Qualität bewahrt und gestärkt werden. Primarschule und Kindergarten sind dementsprechend zusammen in einem einzigen Gebäude konzentriert, das auf der Wiese zwischen bestehenden und neuen Bäumen steht und als Langhaus den südlichen Rand des Campus befestigt.

Die im Sommer potenziell schattige Situation zwischen den Bäumen generiert einen spezifischen Querschnitt mit zweiseitiger Fensterfront und einem zentralen Oberlichtband für die Schulzimmer sowie einer ebenfalls mehrseitigen, teilweise indirekten Belichtung in den Kindergärten.

Die aus speziell hergestellten Keramikteilen gefügten Tiere basieren auf Origami-Faltfiguren, welche auf ihre zweidimensionale Form zurückgeführt sind und abhängig von Blickwinkel und Lichteinfall plastisch oder grafisch wahrgenommen werden. (Foto: Andrea Helbling)
Der Vorraum vor den beiden Klassenzimmern und dem dazwischenliegenden Gruppenraum ist – wie die gesamte Erschliessung – kompakt gehalten. Ein durchgehender, geschliffener Boden aus Hartbeton gewährleistet in dem als reiner Holzbau konstruierten Haus genügend Speicherkapazität. (Foto: Andrea Helbling)
Gab es bedeutende Projektänderungen vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk?


Ursprünglich war es die feste Absicht, alle Bäume zu erhalten, welche die Wiese, auf der das Gebäude steht, zweiseitig flankierten. Die Planung wurde dementsprechend von einem Baumschutzexperten begleitet, und das Untergeschoss wurde minimiert, um den Wurzelbereich nicht zu tangieren. Kurz vor Eingabe des Baugesuchs wurde dann jedoch von der Bauherrschaft entschieden, das Haus zugunsten eines grösseren Kindergartenaussenraums weiter nach Norden zu verschieben. Damit liessen sich die dortigen Bäume leider nicht mehr erhalten. Stattdessen wurden Ersatzpflanzungen vorgenommen.

Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihres Büros ein?


Das Schulhaus widerspiegelt unseren Anspruch, Lösungsansätze jenseits der herkömmlichen Typologien zu entwerfen und reiht sich so in die Galerie der realisierten und geplanten Schulbauten unseres Büros ein. Gerade diese wiederkehrenden Aufgabenstellungen sind für uns wichtige Experimentierfelder, um architektonische Konzepte zu erforschen, zu verifizieren und weiterzuentwickeln. Als erstes vollständig in Holz konstruiertes Haus nimmt das Gebäude in unserem Werk aber auch eine Sonderposition als «Prototyp» und Referenz für zukünftige Holzbauten ein.

Alle Klassenzimmer profitieren von der durch das Schrägdach generierten Raumhöhe. Um der sommerlichen Verschattung durch die beidseits des Hauses stehenden Laubbäume entgegenzuwirken und die tiefen Zimmergrundrisse adäquat zu belichten, verfügen die Räume über zwei Fensterfronten und ein Oberlichtband. (Foto: Andrea Helbling)
Die Kindergartenräume wiederholen den Querschnitt der Klassenzimmer, sind aber mit punktuellen Dachfenstern und einem indirekten Oberlichtband differenziert belichtet. (Foto: Andrea Helbling)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


Beim Planen und Bauen steht für uns immer der Mensch im Zentrum. Dies beinhaltet auch eine generelle Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, Gebäude in allen Aspekten so nachhaltig wie möglich zu planen. Beim Schulhaus 4 war es neben dem konstruktiven Interesse am Holzbau auch unser Wille, den ökologischen Fussabdruck durch eine geeignete Materialwahl zu minimieren.

Situation mit den bestehenden Schulhäusern 1–3 im Norden und dem ebenfalls bereits vorhandenen Kindergarten im Osten. Der Pausenplatz wird westlich von einem Veloständer und östlich von einem Geräteraum flankiert, die beide auch als gedeckte Pausenbereiche dienen. (© Allemann Bauer Eigenmann Architekten)
Grundriss des Erdgeschosses mit den drei Kindergärten im Süden und den Primarschul-Garderoben sowie zwei Therapieräumen und einem Materialraum im Norden (© Allemann Bauer Eigenmann Architekten)
Grundriss des Obergeschosses mit drei Clustern, bestehend aus zwei Klassenzimmern und einem Gruppenraum. Alle Unterrichtsräume sind entlang der Südfassade miteinander verbunden. (© Allemann Bauer Eigenmann Architekten)
Konstruktionsschnitt. Über der betonierten Bodenplatte ist das Haus eine reine Holzkonstruktion, auch der Liftschacht und alle aussteifenden Wände und Decken bestehen aus Holz. (© Allemann Bauer Eigenmann Architekten)
Bauwerk
Erweiterung Schulzentrum Oberhofen, Schulhaus 4
 
Standort
Schulstrasse 5, 9542 Münchwilen
 
Nutzung
Primarschulhaus und Kindergarten
 
Auftragsart
Projektwettbewerb im offenen Verfahren 2018, 1. Preis
 
Bauherrschaft
Volksschulgemeinde Münchwilen
 
Architektur
Allemann Bauer Eigenmann Architekten AG, Zürich
Patric Allemann, Martin Bauer, Marc Eigenmann, Marcel Carozzi (Projektleitung), Anthi Skoupra, Lisa Kahl und Laura Kälin (Wettbewerb)
 
Fachplaner 
Freiraumplanung: PR Landschaftsarchitektur, Arbon
Ingenieur Holzbau: Krattiger Engineering AG, Happerswil
Ingenieur Massivbau: Wehrle & Schiess AG, Münchwilen
Elektroingenieur: etb Elektroplanung, Amriswil
HLKS-Ingenieur: Edwin Keller & Partner AG, Frauenfeld
Bauphysik: Mühlebach Partner AG, Winterthur
Brandschutzplaner: B3 Kolb AG, Romanshorn
Signaletik: TGG GmbH, St.Gallen
 
Kostenplanung und Bauleitung
Perita AG, St.Gallen
 
Fertigstellung
2021
 
Gesamtkosten BKP 1–9
9.73 Mio.
 
Gebäudekosten BKP 2
7.95 Mio
 
Gebäudevolumen
8328 m3 (SIA 416)
 
Kubikmeterpreis
955 CHF/m3
 
Energiestandard
Minergie
 
Massgeblich beteiligte Unternehmer
Holzbau und Fassade: S. Müller Holzbau AG, Wil
Fenster: Gautschi Fensterbau AG, Eschlikon
Bedachungsarbeiten: Roland Weinhappl AG, Sirnach
Bodenbeläge: Repoxit AG, Effretikon
Plattenarbeiten: R. Ziswiler GmbH, Münchwilen
Schreinerarbeiten : Meienberger + Egger AG, Münchwilen
 
Kunst am Bau
«Vielfalt» von Joëlle Allet, Winterthur
 
Auszeichnung
Gutes Bauen Ostschweiz
 
Fotos
Andrea Helbling Arazebra, Zürich

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