Überraschender Dreiklang

VERVE Architekten | 7. März 2025
Die Architekten haben ihre Arbeit beendet – nun übernehmen die Kletterpflanzen. Sie sollen die Gestalt des Gebäudes in naher Zukunft prägen. (Foto: © Fotostudio ph7, Stefan Hofmann)
Herr Tschachtli, Herr Prinz, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Florian Prinz: Die Bauaufgabe hat eigentlich alles vereint, wovon wir als Architekten häufig träumen. In den Worten der Bauherrschaft ging es darum, Raum für »altersdurchmischtes, gemeinschaftliches Wohnen« zu schaffen, und zwar im Garten eines denkmalgeschützten Mehrfamilienhauses. Neben sozialen Aspekten ging es also auch um innere Verdichtung, Denkmalpflege und Rücksichtnahme auf den imposanten Baumbestand. Großartig war dabei, dass sich die Wünsche und Anforderungen der Bauherrschaft sehr stark mit unseren Vorstellungen zu dieser Aufgabe deckten. Die Herausforderung lag eher darin, die bereits sehr schöne Situation aus Bestandsbau und parkartigem Garten nicht zu verschlechtern.

Der Neubau kauert sich unter die Krone der Blutbuche. Punktfundamente aus Mikropfählen an vorsondierten Standorten verhindern, dass die Wurzeln des Baums Schaden nehmen. (Foto: © Fotostudio ph7, Stefan Hofmann)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?


Roman Tschachtli: Der Grundriss ist die maximal bebaubare Fläche unter Berücksichtigung der Baulinien und des minimal notwendigen Gebäudeabstands. Der Entwurf reagiert auf das Baudenkmal und den Baum, indem zwei Ecken der Fassaden weit nach unten gezogen werden. Auf der einen Seite verhindert dies, dass trotz des minimalen Gebäudeabstands eine Art »Schlucht« zwischen den beiden Häusern entsteht. Auf der anderen Seite bleibt dadurch Raum für die Blutbuche, und der Neubau kauert sich unter deren mächtige Krone.

In der Dämmerung offenbart das Haus sein Innenleben. (Foto: © Fotostudio ph7, Stefan Hofmann)
Wie kamen Sie zu dem Auftrag?


Roman Tschachtli: Kennengelernt haben wir die Bauherrschaft über eine Vermittlungsplattform für Architekten. Das ist ein bisschen wie in der Fernsehsendung «Bauer, ledig, sucht …». Auf der Plattform stellen Bauherren jeweils ihr Projekt vor, und interessierte Architektinnen und Architekten können sich dafür bewerben. Im besten Fall resultiert das Ganze in einem perfekten Match, bei dem es für beide Seiten gleichermaßen gut passt – so wie im vorliegenden Fall mit unserer Bauherrschaft in Biel. Inzwischen verbindet uns sogar eine Freundschaft.

Welche besonderen Anforderungen wurden gestellt? Wie trugen Sie diesen Rechnung?


Florian Prinz: Die Frage der Wärmeerzeugung und -verteilung war bereits in einer sehr frühen Phase ein Thema – also noch bevor klar war, ob es sich um einen Massiv- oder einen Holzbau handeln würden. Die Bauherrschaft war hier an unkonventionellen Lösungen interessiert. So wurden verschiedene Systeme von der Eisheizung über Hypokausten bis zur Pyrolyse analysiert. Schlussendlich wurde ein Prototyp einer vollautomatisierten Pyrolyseheizung der Firma Pyronet eingebaut, welche Bestands- und Neubau gleichermaßen mit Wärmeenergie versorgt.

Im Pyrolyseverfahren ist es möglich, CO2-negativ zu heizen, da Holz nicht verbrannt, sondern verkohlt wird. Somit bleibt CO2 dauerhaft in der zurückbleibenden Pflanzenkohle gebunden. Die Kohle kann zur Verbesserung der Bodenqualität sowie für viele andere Zwecke verwendet werden. Einige wenige solcher Heizungen sind auf landwirtschaftlichen Betrieben bereits seit längerem im Einsatz. Das beim Zelthaus eingesetzte Modell ist jedoch das erste seiner Art, bei dem sowohl die Beschickung mit Hackschnitzel als auch die Austragung der Pflanzenkohle vollautomatisch geschieht. 

Die statische Struktur aus gleichschenkligen Dreiecken prägt das Raumgefühl. Bis zu sechs Balken laufen in den Knoten mit einer Stütze zusammen. (Foto: © Fotostudio ph7, Stefan Hofmann)
Ein Milchglas in der Decke versorgt das Bad indirekt mit Tageslicht. (Foto: © Fotostudio ph7, Stefan Hofmann)
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk verändert?


Roman Tschachtli: In einer Vorstudie haben wir zunächst verschiedene Typologien von Anbauten über verstreute Kleinbauten bis zum Solitär geprüft. Der realisierte Entwurf war bereits die Bestvariante der Machbarkeitsstudie. Selbst die statische Struktur aus gleichschenkligen Dreiecken, welche in die Grundrissform eines unregelmäßigen Vierecks eingeschrieben waren, stand zu diesem Zeitpunkt bereits fest. Diese Dreiecksstruktur wurde sehr konsequent umgesetzt – alle Räume im Haus sind ihr unterworfen. Als Gegengewicht zu dieser konstruktiven und gestalterischen Stringenz gibt es die Fassadenbegrünung. Die Pflanzen haben das Gebäude bereits zur Hälfte eingenommen und werden seine äußere Gestalt zukünftig prägen.

Eine »Spindeltreppe« ohne Spindel, dafür mit Ablagemöglichkeit unter jedem Tritt schafft Stauraum. (Foto: © Fotostudio ph7, Stefan Hofmann)
Inwiefern beschäftigten Sie sich im Büro mit der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit?


Florian Prinz: Interessant ist hier vor allem, wonach Sie nicht fragen: wirtschaftliche Nachhaltigkeit. Diese wird offenbar als selbstverständlich vorausgesetzt, wohingegen soziale und ökologische Nachhaltigkeit in Projekten eine Art »Zusatzoption« zu sein scheinen, die ein Bauherr »ziehen« kann, oder eben auch nicht. Das ist natürlich ein Trugschluss. All unsere Projekte kreisen um die Frage, wie ein Gleichgewicht zwischen den drei Faktoren erreicht werden kann. 

Situation (© VERVE Architekten)
Grundriss Erdgeschoss (© VERVE Architekten)
Grundriss Obergeschoss (© VERVE Architekten)
Grundriss Galerie (© VERVE Architekten)
Dachaufsicht (© VERVE Architekten)
Zelthaus Biel
2024
Mühlestrasse 32a
2504, Biel, Kanton Bern, Schweiz
 
Nutzung
Mehrgenerationen-WG-Haus
 
Auftragsart
Direktvergabe nach Match auf einer Vermittlungsplattform für Architekten
 
Bauherrschaft
Privat
 
Architektur
VERVE Architekten, Biel
Florian Prinz und Roman Tschachtli
 
Fachplaner
Bauingenieur: Baukonstrukt AG, Biel
Holzbauingenieur: B3 Kolb AG, Biel
Gebäudetechnik: Enerconom AG, Solothurn
 
Ausführende Firmen
Fundation und Baumeister: Stettler AG, Studen
Holzbau: Beer Holzbau AG, Ostermundigen
Fassade in Stahl und Glas: Muttscheller AG, Biel
EPDM-Dachhaut: Sadriu Abdichtungen GmbH, Thun
Heizung: Ganz AG, Nidau
Sanitär: Pärli AG, Biel
Elektro: Gutjahr AG, Safnern
Metallbau: Bickel GmbH, Walperswil
Lehmböden und -wände, Kalkputze sowie Farben: Scheer GmbH, Bern
Schreinerarbeiten: Cubus Schreinerei, Grasswil
Kunstlicht: Lichtbau GmbH, Bern
 
Hersteller
Pyrolyse-Heizung: Pyronet GmbH, Basel
 
Bruttogeschossfläche
295 m2
 
Gebäudevolumen 
948 m3
 
Fotos
Fotostudio ph7, Stefan Hofmann, Biel

Vorgestelltes Projekt 

Oliver Christen Architekten

Wohnhaus Burgmatt

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