Steffen Hägele von DU Studio: «Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Legitimation, die Stadt weiterzubauen, nicht verlieren»

Andrea Wiegelmann
5. Mai 2022
Steffen Hägele und Tina Küng (Foto © DU Studio)

 

Andrea Wiegelmann: Steffen, mit euren Wettbewerbsbeiträgen für die Schulanlagen Saatlen in Zürich-Schwamendingen (2020) und Höckler in Zürich-Wollishofen (2021) geht ihr grundsätzlichen Fragen des Städtebaus nach und übt Kritik an unserer Stadtplanungspraxis. In beiden Arbeiten thematisiert ihr «blinde Flecken» der Planung, in Schwamendingen die Schneise, die die Autobahn A1 durch die ehemalige Gartenstadt von Albert Heinrich Steiner (1905–1996) pflügt, in Wollishofen die Insellage des von Verkehrsachsen umspülten und durchschnittenen Quartiers. Ihr arbeitet mit diesen Barrieren und denkt die Quartiere als Teil der Stadt.

Steffen Hägele: Uns treibt die Frage um, wie wir den Raum, den öffentlich nutzbaren Raum, der sich zwischen den Bebauungen entfalten sollte, mit einem erweiterten Verständnis bereichern und weiterentwickeln können.
Wir erleben heute eine grosse Hektik im Bauen. Eine toxische Mischung aus hoher Nachfrage nach Wohn- und Schulraum, niedrige Zinsen und Anlagedruck treibt die Bebauung der Stadt in einer Weise voran, die sich zu oft mit der Aneinanderreihung von Einzelobjekten begnügt. Die rasche Abhandlung in separaten Perimetern verunmöglicht es, die Stadtplanung zusammenhängend zu denken und die einzelnen Massnahmen projektübergreifend aufeinander abzustimmen. Als mehr oder weniger diskretes Generationenprojekt wird momentan die Verdichtung Zürichs in einer immensen Geschwindigkeit vorangetrieben. Diese nach innen gerichtete Entwicklung unterstützen wir prinzipiell. Allerdings stehen sowohl in Schwamendingen als auch in der Manegg die einzelne Parzelle und der einzelne (Ersatz)Neubau im Fokus – nicht der Stadtraum. Doch wer, wenn nicht die Stadt und die Planenden ist der Anwalt des Zwischenraums?
Das Problem von Figur und Grund, voll und leer hat sich umgekehrt: Der Fokus muss wieder auf den Leerraum gelenkt werden und darauf, wie dieser gefasst ist. Als Architektinnen und Architekten sollten wir nicht nur Dienstleister für die Form, sondern auch Aktivisten für den Inhalt sein. Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Legitimation, die Stadt weiterzubauen, nicht verlieren.

 

Die Schulanlage Höckler in Zürich-Wollishofen wird in den Plänen von Steffen Hägele und Tina Küng zur Verbindung zur Allmend. (Luftbild © DU Studio)
Situationsplan © DU Studio

Bei eurem Wettbewerbsbeitrag für die Schulanlage Höckler in Zürich-Wollishofen habt ihr nicht nur den Wettbewerbsperimeter betrachtet: Euer Vorschlag umfasst eine Folge von baulichen Interventionen, die sich entlang einer Passerelle vom Grundstück des zukünftigen Schulhauses bis auf die Allmend spannen. So wolltet ihr dem Quartier nicht nur ein neues Schulhaus für die Sekundarstufe zur Verfügung stellen, sondern insbesondere Freiraum für Freizeitaktivitäten und gemeinschaftliche Nutzungen, die sonst im Quartier nicht vorgesehen sind.

Der Städtebau in der Manegg negiert die reale Situation mit den alles dominierenden Verkehrsachsen: der Autobahn A1, der Trasse der SZU sowie der als Zubringer und Ausfallstrasse dienenden Allmendstrasse. Vergessen gehen auch der Industriebestand und der Flussraum der Sihl. Wir haben mit unserem Wettbewerbsbeitrag den Status quo der bestehenden Planung akzeptiert und versucht, die noch bestehenden Fragmente zu aktivieren und nicht zu marginalisieren, um eine Sequenz aus öffentlichen Räumen zu schaffen, die mit der Situation operieren und in ein Beziehungsverhältnis zum Landschafts- und Infrastrukturraum im Sihltal treten.
Letztlich ist der «Green City» genannte Perimeter beispielhaft: War noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die strategische Positionierung von Schulen und Freiräumen eine feste Grösse in der Stadtplanung und wurden Parzellen im Baurecht veräussert, vollzog sich in den 1990er- und 2000er-Jahren ein Paradigmenwechsel. Insbesondere Industrie- und Gewerbebrachen wurden unter dem Druck rapider gesellschaftlicher Entwicklungen – des Bevölkerungswachstums und der Renaissance der Innenstädte bei gleichzeitigem Erstarken einer neoliberalen Finanz- und Marktwirtschaft – an Investoren verkauft. Die Arealbebauungen folgten auf städtebauliche Wettbewerbe, umgesetzt von namhaften Kolleginnen und Kollegen. Das Problem dieser Planung ist der Zeit- und Renditedruck. Paradoxerweise werden heute die Schulen im Baurecht in die Gestaltungspläne gezwängt.
Gleichzeitig haben die institutionellen Bauherrschaften die Seiten gewechselt, der Stadtraum interessiert sie nur noch, wenn er vermarktbar ist. Sie konzentrieren sich auf die Finanzierung von verkauf- und vermietbarem gebauten Raum.

Was dann wie in der Manegg dazu führt, dass die Planung des Quartiers vorangetrieben und umgesetzt wird, ohne den Städtebau in seinen Zusammenhängen zu betrachten. In nur zwanzig Jahren wurde der Bestand komplett abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Das Quartier an sich besteht aus qualitätsvollen Wohnbauten, allerdings fehlt es an Räumen der Aneignung. Letztlich könnten die Bauten überall stehen, Bezüge zum Ort wurden ausradiert. Strassen und Plätze sind überdeterminiert. 

Am Beispiel der Manegg sieht man deutlich, wie flüchtig gewisse Eigenschaften des Freiraums sind, in Anbetracht der Geschwindigkeit und der eben angesprochenen Überdeterminierung. Es werden Quartiere hochgezogen, die grosse Eile spüren lassen. Die Spezifitäten des Kontexts werden beseitigt. Die «Idealstadtplanung», die über das Quartier gelegt ist, mit der Allmendstrasse als städtebauliche Achse erinnert an eine Trabantenstadt. An anderer Stelle haben wir von «Agglomisierung» gesprochen: die rückwirkende Überführung in eine anonyme Agglomerationsarchitektur. Den Aussenraum prägt eine gestalterische Überfrachtung, die mitsamt eigener Signaletik im Quartier zu einer wahrnehmbaren Privatisierung führt. Auch die Zürcher Europaallee zum Beispiel ist so im Grunde zur öffentlichen Mall geworden. 
Die Architektur wiederum wird mit Labels ausgestattet und über eine vordergründige Nachhaltigkeit legitimiert, was einen heroischen Beigeschmack hat. Analog zum Sowjetrealismus, wie wir ihn zum Beispiel an der Karl-Marx-Allee in Berlin sehen, könnte man von einem «Helvetianischen Realismus» sprechen: «Green», gross, «Netto null». Was wir vorschlagen, ist eine Umkehrung der Hierarchie: Welche Stadträume entstehen für welche Nutzerinnen und Nutzer, insbesondere im Umfeld unserer Schulen und öffentlichen Bauten?

Man muss fragen, ob angesichts der Verdienstmöglichkeiten institutioneller wie privater Investierender die Stadt nicht mehr fordern muss und sozusagen Gegendruck zum Investitionsdruck aufbaut. Immerhin finanziert sie die nötige Infrastruktur für diese Quartiere. Dabei könnte auch hier ein Teil der Finanzierung ausgelagert werden. Zumindest wäre ein anderer Umgang mit dem Stadtraum in diesen Quartieren dringend erforderlich. Für die Manegg formuliert euer Beitrag ein Gegenmodell.

 

Auftakt zum Schul- und Sportkomplex Höckler (Visualisierung © DU Studio)
Steffen Hägele und Tina Küng schlugen im Wettbewerb vor, die bestehenden Hallen für die Schulanlage Höckler zu nutzen. Denn sie sind wichtige Identifikationspunkte im und für das Quartier. (Visualisierung © DU Studio)
Die Allmend als Amphitheater; der Vorschlag für die Schulanlage Höckler sollte dem Quartier auch die bis anhin fehlenden Freiräume für Freizeitaktivitäten und gemeinschaftliche Nutzungen geben. (Visualisierung © DU Studio)

Da es insbesondere um die Räume für unsere Kinder und Jugendlichen geht, haben wir uns viel mit der Frage beschäftigt, wie geschmeidig diese werden dürfen und wie viel Reibung nötig ist. Deswegen haben wir uns dem Bestand zugewandt. Wir wollten die bestehenden Hallen aktivieren – als Identifikationspunkte im und für das Quartier. Der Bestand ist nicht herausragend, aber er ist robust und gestalterisch offen und damit sehr gut geeignet für eine neue Nutzung, die gleichzeitig ein Stück Quartiergeschichte beinhaltet.
Zugleich bieten die Bestandsbauten eine gute Möglichkeit, über Schule und Unterricht nachzudenken. In welchen Räumen sollen Kinder und Jugendliche aufwachsen und unterrichtet werden? In der bisherigen Planungspraxis sind die Schülerinnen und Schüler marginalisierte Nutzende. Warum entwickeln wir Orte für das Lernen in einem vergleichbaren Geist wie Büroräume? Welche Haltung, welches Gesellschaftsbild wollen wir vermitteln? Es ist spektakulär und mutig, dass die Stadt an einem solchen Ort eine Schule vorschlägt, mit all den vorhandenen Widrigkeiten.
In der Manegg wäre es darüber hinaus möglich gewesen, die Brüchigkeit des Bestands lesbar zu lassen und eine Schule umzusetzen, die einer anderen Vorstellung von Unterricht und Lernen folgt.

 

Axonometrie der Schulanlage Saatlen (© DU Studio, Bessire Winter Architekten)

Diesem Verständnis von Städtebau und in der Folge Hochbau, dem Akzeptieren und Eingehen auf die real existierenden Rahmenbedingungen, folgt auch euer Wettbewerbsbeitrag für den Ersatzneubau der Schule Saatlen. Indem ihr den Neubau an die Autobahneinhausung der A1 rückt, mit weiteren Nutzungen ergänzt und das Schulareal zum Quartierpark rückbaut, betreibt ihr Stadtplanung auf übergeordneter Ebene.  

Bei unserem Vorschlag für Schwamendingen, den wir gemeinsam mit Bessire Winter Architekten erarbeitet haben, nutzen wir den erweiterten Schulkomplex am neuen Ort, um die jetzt im Bau befindliche Autobahneindeckung als städtischen Raum zu aktivieren – anstelle des Versprechens einer überdimensionierten Hecke. Gleichzeitig wird das ehemalige Schulareal zum vage artikulierten Volkspark, der die Verklumpung der ehemaligen Gartenstadt puffert.
Uns erscheint wichtig, dass die Zeit als Faktor in die Planung einbezogen wird, insbesondere bei öffentlichen Bauten. Wir finden es verheerend, dass die Schulen unter solchem Zeitdruck realisiert werden. Dies verringert den Handlungsspielraum enorm: Die Wettbewerbsprojekte sind im Grunde schon Bauprojekte. In den Verfahren geht es nicht um unterschiedliche Ideen oder Szenarien, es geht darum, das geschmeidigste Bauprojekt herauszufiltern. 
Es ist die Eigentumsfrage, die alles dominiert; in Verbindung mit dem Zeitdruck zu bauen wird guter Städtebau, also eine langfristige und abgestimmte Planung, heute praktisch verunmöglicht. Diese Praxis müssen wir ändern, nur so haben wir die Chance, Projekte im übergeordneten städtebaulichen Kontext zu betrachten und Zusammenhänge zu behandeln.

 

 

Gemeinsam führen Steffen Hägele und Tina Küng das Architekturbüro DU Studio, Zürich – Detour Universe. Steffen Hägele ist Architekt. Er ist Oberassistent am Lehrstuhl VOLUPTAS – Professur Charbonnet/Heiz an der ETH Zürich. An der Zürcher Hochschule der Künste unterrichtet er Raumtheorie im Studiengang Bühnenbild. Zuvor war er mit Made in an der Accademia di architettura in Mendrisio und mit Lütjens Padmanabhan Architekten an der EPF Lausanne. 
Tina Küng ist Architektin. Sie unterrichtet als Entwurfsassistentin am Lehrstuhl von Emanuel Christ und Christoph Gantenbein an der ETH Zürich.
 
 
Informationen zu den im Interview besprochenen Wettbewerbsprojekten
 
Schulanlage Höckler
Architekturwettbewerb im offenen Verfahren nach SIA 142 (einstufig, anonym) mit 32 Teilnehmenden, 2022
 
Bauherrschaft: Stadt Zürich
Eigentümervertretung: Immobilien Stadt Zürich
Bauherrenvertretung: Amt für Hochbauten

1. Rang / 1. Preis mit Antrag zur Weiterbearbeitung
Architektur und Landschaftsarchitektur: Büro Konstrukt, Luzern
Akustik, Energieingenieurwesen und Nachhaltigkeit: Brücker + Ernst GmbH, Luzern
Photovoltaikplanung: HKG-Engineering AG, Rotkreuz
 
 
Schulanlage Saatlen
Architekturwettbewerb im offenen Verfahren nach SIA 142 (einstufig, anonym), 2020
 
Bauherrschaft: Stadt Zürich
Eigentümervertretung: Immobilien Stadt Zürich
Bauherrenvertretung: Amt für Hochbauten
 
1. Rang / 1. Preis mit Antrag zur Weiterbearbeitung
Architektur: Bollhalder Eberle Architektur, Zürich
Landschaftsarchitektur: vetschpartner Landschaftsarchitekten AG, Zürich 
Bauingenieurwesen: Borgogno Eggenberger + Partner AG, St. Gallen
Energie- und Gebäudetechnik: Wirkungsgrad Ingenieure, Luzern

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