Verwoben, gespiegelt und multisensorisch
Der Schweizer Beitrag zur 19. Architekturbiennale verbindet den temporären Bau, den Lisbeth Sachs 1958 zur Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit gestaltete, mit Bruno Giacomettis Länderpavillon in den Giardini. Das eröffnet eine ungewohnte Perspektive auf die Baukunst und deren immaterielle Aspekte.
Mit ihrem Beitrag für die diesjährige Architekturbiennale von Venedig schaffen Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins und Myriam Uzor vom Architektinnenkollektiv Annexe zusammen mit der Künstlerin Axelle Stiefel einen hybriden und multisensorischen Raum – wobei die Kategorie Raum in ihrem Projekt eine besondere Dimension erhält. Eine nämlich, die das Statische des Raumbegriffs öffnet. Das wird gleich beim Betreten des Pavillons – beziehungsweise der Pavillons im Plural – körperlich spürbar. Schnell einmal stellen sich Ruhe und Langsamkeit ein. Trotz des Gewusels und Getriebes der Eröffnungstage wird die Besucherin von einem Gefühl der Leichtigkeit erfasst.
Textilien filtern das Licht und bewegen sich leise im Wind. Die Besuchenden werden stiller und halten inne. Es ist nicht die Art Stille, in die man beim Betreten einer Kirche verfällt. Viel eher scheint es, als ob der Raum lächeln und sich im Rhythmus der Menschen mitbewegen würde. Was sind die Gründe für diese eigentümliche Wirkung? Liefert ein Gespräch, das ich im Vorfeld der Biennale mit den Kuratorinnen führte, nachträglich eine Erklärung dafür? Da war etwa die Rede von spekulativen Erzählungen und Methoden, von der Idee des Phantasmas oder von Zuhören als Praxis. Das klang damals abstrakt.
Die Bezugnahme auf einen konkreten Bau von Lisbeth Sachs (1914–2002), den sie 1958 für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit, kurz Saffa, entworfen hatte, ließ erahnen, welche Fragestellungen das Team bewegen. Mit seinem Projekt adressiert das Kollektiv zum einen das Thema Gender in der Architektur. Aber es stellt zum anderen auch allgemeine Themen wie neue, kollektive Formen des Arbeitens in den Raum. Obwohl an der diesjährigen Biennale so dringende Probleme wie Klimawandel oder aktuelle Herausforderungen wie künstliche Intelligenz im Vordergrund stehen, ist Gendergerechtigkeit keineswegs »gefressen« – im Gegenteil. Nicht zuletzt, weil es einen engen Zusammenhang zwischen Klimaungerechtigkeit und Geschlecht gibt, denn Frauen gehören zu den vulnerableren Gruppen von Menschen. Aber das zu vertiefen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Die ungleiche Behandlung von Architektinnen und Architekten ist schon nur an der Tatsache ersichtlich, dass keiner der Länderpavillons in den Giardini von einer Frau stammt.
Das Schicksal der mangelnden Anerkennung ihrer Leistung im Architekturberuf traf auch Lisbeth Sachs. Ihr Werk wurde erst nach ihrem Tod gebührend aufgearbeitet. Und nun bildet es in Venedig den Ausgangspunkt für ein bauliches und gedankliches Experiment. Experiment auch deshalb, weil das Projekt implizit das Prozesshafte und Offene von Bauwerken thematisiert. Endgültigkeit wird dabei indirekt als Wunschdenken und männlich-westliches Konzept entlarvt. So gesehen fügt sich der Beitrag sehr schön in die multidisziplinäre Gedankenwelt von Donna Haraway ein, die dieses Jahr mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk geehrt wurde. Ihr Denken betont immer wieder, dass wir zu einer neuen – und zugleich altbekannten – Form der sinnlichen Wahrnehmung finden müssen. Eine, die Objektivität als fragmentarisch und verortet definiert statt als trennend, binär und universell.
Die Überlagerung und räumliche Durchdringung der rechtwinkligen Architektur von Bruno Giacometti mit dem radial organisierten Pavillon von Lisbeth Sachs lässt nicht nur auf einer konzeptuellen Ebene zwei gegensätzliche Ideenkonstrukte aufeinandertreffen, sondern macht diese Fusionierung auch sinnlich erfahrbar. Licht, Luft, Klang, Bewegung, Durchlässigkeit: All diese Elemente sind durch immaterielle Komponenten geprägt, die sich schwer quantifizieren lassen. Architektonische Objekte sind wie Organismen, sie verändern sich fortdauernd. Sie altern materiell und wandeln sich zudem durch ihre Nutzerinnen und Nutzer. Doch wie der materielle Prozess der Entstehung von Bauwerken kommen solche Aspekte in der Repräsentation von Architektur – und dazu gehört auch das Schreiben über Architektur – selten zum Zuge.
Gebäude werden von Menschen entworfen, gebaut, bewohnt und genutzt; das wusste auch Lisbeth Sachs. Ihr Verständnis von Architektur als angewandte Soziologie mutet extrem zeitgenössisch an. Die Architektin schloss ihr Studium 1939 ab und gewann kurz danach den Wettbewerb für das Kurtheater Baden. Später entwarf sie eben den Kunstpavillon für die Saffa – eine Halle mit einer dünnen Dachhaut, die zwischen Ringen aus Beton und einer Stahlkonstruktion aufgespannt wurde. Unterteilt wurden die Räumlichkeiten durch Vorhänge. Da es an der Architekturbiennale indes nicht um Kunst geht, suchten die Architektinnen von Annexe nach einem anderen »Inhalt«. In diesem Zusammenhang entstand die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Axelle Stiefel, die das Thema Klang einbrachte und damit ein zusätzliches immersives Element schuf. Sowohl während der Vorbereitungszeit als auch beim Bauen vor Ort wurden Audio-Aufnahmen gemacht und danach gemeinsam ausgewertet und neu zusammengestellt. Die Geräusche erzeugen eine Klanglandschaft, welche die Spuren der Entstehung lebendig werden lässt. Sie erfordern zudem eine aktive Beteiligung des Publikums. Zuhören ist kein passiver Vorgang, sondern Teil der dynamischen Raumerfahrung.
Das Performative ist bereits in der kreisförmigen Architektur von Lisbeth Sachs angelegt, wird aber im Konzept des Teams neu gelesen und ergänzt. Der Beitrag »Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt« ist bewusst nicht als historische Ausstellung konzipiert, sondern als Imaginationsraum, der Spekulationen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermöglicht. Die fragmentarische »Rekonstruktion« orientiert sich zwar am Original, verfremdet dieses aber und denkt es neu. Re-Lektüre und Neuverkörperung widerspiegeln sich sowohl in der räumlichen Positionierung – spiegelverkehrt gegenüber dem ursprünglichen Entwurf und den bestehenden Bau durchdringend – als auch in der Materialisierung. Diesbezüglich betrieben die Architektinnen eine intensive Recherche, die sich nach ökologischen und budgettechnischen Leitlinien richtete. Die materielle Übersetzung fügt eine zusätzliche Bedeutungsschicht hinzu. Die unprätentiöse Erscheinung und die umsichtige Wahl der Werkstoffe unterstützen das sinnliche Erleben dieser temporären Raumkonstellation. Der diesjährige Schweizer Pavillon ist wie sein Vorgänger helvetisch zurückhaltend und sprengt zugleich festgefahrene Denkformen. Er besitzt das Potenzial für eine nachhallende und anhaltende Wirkung.