Vielfalt im Detail
Unvollkommenheit akzeptieren und mit dem Vorhandenen gestalten – die Erscheinung des Wohnhauses von Architekt Pascal Flammer auf dem Areal des ehemaligen Hobelwerks in Winterthur trifft den Zeitgeist im Bauwesen, weil es trotz aller Reduktion attraktiv ist.
Als zweites Bauprojekt der Genossenschaft mehr als wohnen ist die neue Bebauung auf dem Areal der ehemaligen Kälin & Co. AG in Oberwinterthur auf andere Art überraschend und wegweisend, als es vor einigen Jahren das Hunziker-Areal in Zürich war. In Winterthur erprobt die Baugenossenschaft neue Wohnformen und hat dafür mehrere Architekturbüros beauftragt. Zu den bisherigen Ansätzen wie Partizipation und Inklusion haben beim neuen Projekt die Themen Schwammstadt, Vegetationsplanung und die Wiederverwendung von Bauteilen ein neues Gewicht.
Das zuletzt fertiggestellte Haus D von Pascal Flammer mag wohl das wegweisendste sein, wenn es darum geht, Vorzeigeprojekte für ein neues Bauen zu konzipieren und attraktiv zu gestalten. Seine Lage am nördlichen Rand des Geländes versteckt es etwas hinter den Nachbarn, zugleich profitieren die Bewohnerinnen und Bewohner von der etwas abseitigen, geschützteren Lage hinter der historischen Hobelwerkhalle. Umgeben vom achtgeschossigen Wohnbau Haus C, der entlang der Bahntrasse die Funktion eines Lärmschutzriegels übernimmt, und dem achteckigen, neungeschossigen Wohnturm Haus E auf Straßenseite (beide Ramser Schmid Architekten), leben die Bewohner von Flammers Gebäude privilegiert in großzügigen Grundrissen und mit weiten Ausblicken in die Umgebung.
Auf den öffentlichen Charakter der Außenräume reagiert die Architektur: Das 3.6 Meter hohe Erdgeschoss nimmt auf der einsehbaren Südwestseite weniger private Räume wie Wohnateliers, Werkräume und den Zugang zu den Wirtschafts- und Fahrradräumen sowie die zentrale Erschließung auf. Nordöstlich ist der Außenraum privater, dort befinden sich kleine Gärten vor den Eingängen zu den Kleinwohnungen. Die Grundrisse sind durchgesteckt, sodass von den privaten Bereichen aus jeweils die Ateliers im vorderen Teil zugänglich sind. Im Nordwesten des Baus ist dieses Konzept auf einen Werkstattcharakter angepasst – drei der fünf Wohnateliers haben direkten Zugang zur großzügigen, gemeinschaftlich genutzten Werkstatt im Haus. Pascal Flammer bewertet diese Vielfalt und die damit verbundene leichte Erreichbarkeit der verschiedenen Bereiche positiv: »Die Erdgeschosszone ist im Genossenschaftsbau eine ideale Ergänzung. Dass wir hier ein so offenes Konzept umsetzen konnten, fand ich sehr inspirierend.« Und Rahel Leugger ergänzt: »Im Erdgeschoss ist es üblicherweise schwierig, Privatheit zu schaffen und die Räume vor Einblicken zu schützen. Die hier angebotenen Wohn- und Arbeitsformate sind so konzipiert, dass eine gezielte Öffnung nicht stört und Privates geschützt wird.«
In den oberen drei Geschossen befinden sich jeweils zwei Clusterwohnungen, die über eine außen liegende Wendeltreppe aus hellen Betonelementen erschlossen werden. Vom vorgelagerten Podest, das auch über einen Aufzug erreichbar ist, geht es in den gemeinsamen Vorraum beider Großwohnungen. Dieser ist gerade so groß, dass er für einen angemessenen Zugang reicht, und wird nicht zur Nordseite verlängert. Stattdessen schließt an ihn ein variabel nutzbares Gästezimmer mit eigenem Duschbad an.
Die Nutzung der Clusterwohnungen ist sehr flexibel gestaltbar. Grundsätzlich gibt es pro Wohnung auf der nordöstlichen Seite drei bis vier einzelne Wohneinheiten mit eigenem Dusch- oder Wannenbad, diese sprechen mit ihren ein, zwei oder drei separaten Zimmern unterschiedliche Nutzergruppen an. Einzelne Zimmer ohne eigene Nasszelle ergänzen das Angebot und können als Ausweichbereich oder Wohnraum genutzt werden. Ein langer Riegel – aus Garderobe auf der einen und Küchenzeile auf der anderen Seite – trennt die Privaträume vom gemeinsam genutzten Bereich.
Offen und frei gehalten ist hier Raum für Vieles. Vor der Küche findet sich meist ein langer Esstisch für die Gemeinschaft, seitlich angrenzend bietet sich der ruhigere Nebenraum für eine Sofaecke, einen Spiel- oder Fernsehraum an. An den gesamten Aufenthaltsraum schließt im Ostteil des Hauses ein langer und tiefer Balkon an, während die westlichen Wohnungen jeweils eine kleinere Loggia zur Hobelwerkhalle und einen separaten Balkon auf der Westseite haben. Ändert sich der Bedarf, können auch beide Wohnungen einer Etage zu 16-Zimmer-Einheiten verbunden werden, was aktuell in einem Geschoss so umgesetzt ist.
Haus D hat keine Untergeschosse und die Fundamente des Holzbaus sind so reduziert wie möglich ausgeführt. Zu dieser Grundhaltung der Entwerfer kam der Wunsch der Bauherrschaft, Re-Use-Bauelemente zu verwenden. Während bei den anderen vier Wohnhäusern, die die Genossenschaft in zwei Etappen zwischen 2019 und 2023 errichtete, konventionellere Bauweisen zum Einsatz kamen, war es bei Haus D ein zentraler Auftrag, so viele wiederverwendbare Bauteile wie wirtschaftlich sinnvoll zu integrieren.
Insgesamt wurden 60 Elemente untersucht und schließlich 21 verbaut. Dazu gehören Fenster, Balkonbrüstungen, Zimmertüren und Fassadenelemente. Die Herkunft der Bauteile ist vielfältig: Während die Zimmertüren mit ihren »besetzt/nicht besetzt«-Schiebern aus einem Bankgebäude stammen, waren die Metallgitter für die Balkone früher Liegepritschen in einem Gefängnis. Trotz der charaktergebenden Vielfalt der Bauteile ist der Wohnbau in seiner Erscheinung angenehm homogen, denn alle Elemente der Fassade wurden gleichmäßig weiß gestrichen, um sie optisch einander anzunähern. Trotz Unterschieden in Format und Beschaffenheit ergibt das eine neu zusammengewachsene Einheit, die sich erst mit genauerem Hinschauen sezieren lässt.
Vom Projekt profitieren viele: Nicht nur die Bauherrschaft hat über die Projektzeit neue Szenarien kennengelernt und sich Wissen angeeignet, das sie bei künftigen Projekten nutzen kann. Auch Architekt Flammer meint, dass er sich bei der funktionalen Ausschreibung darauf einlassen musste, die Kontrolle abzugeben und vielmehr die Funktionen der einzelnen Dinge zu bewerten. »Als Planer haben wir uns auf das Wesentliche reduziert und mussten auch lernen, die Unvollkommenheit als architektonischen Willen zu akzeptieren«, so der Architekt. Die Genossenschaft sieht ihre Projekte zudem als Schritte, die aufeinander aufbauen. »Die Erkenntnisse aus bewährten und nicht bewährten Ansätzen nehmen wir mit und entwickeln sie weiter, womöglich auch zu neuen Wohnformen«, ergänzt Leugger. Dass diese Erkenntnisse darüber hinaus auch anderen Genossenschaften zur Verfügung gestellt werden, ist ein löblicher Ansatz in Hinblick auf die zwingend notwendige Weiterentwicklung des Bauwesens.
Projektinformationen Hobelwerk, Haus D
Standort
Winterthur, Kanton Zürich, Schweiz
Bauherrschaft
Baugenossenschaft mehr als wohnen, Zürich
Architektur
Pascal Flammer Architekten, Zürich
Energie-Standard
2000-Watt-Gesellschaft (Effizienzpfad 2040)
Heizsystem
Bivalent: Luft-Wasser-Wärmepumpe, Pellet Heizkessel
Flächenbedarf pro Kopf
30 m² p. P. (Schweizer Durchschnitt: 47 m² p. P.)