Vielseitiges Holz

Elias Baumgarten | 9. Mai 2025
Foto: © Jan Thoma | Blumer Lehmann

Die eindrucksvollsten Holzgebäude der Welt werden in der Ostschweiz geplant: Der Holzbauer Blumer Lehmann ist eine Anlaufstelle für die internationale Architekturszene. Shigeru Ban konstruierte die frei geformte Gitterschale des Swatch-Hauptgebäudes in Biel gemeinsam mit dem Traditionsunternehmen aus Gossau. Auch Marks Barfield Architects vertrauen auf dessen Expertise: Zusammen gestaltete man die 30 Baumstützen, deren Äste das Dach der Moschee von Cambridge tragen. Sogar Foster + Partners entwickelten das filigrane Tragwerk des Maggies-Krebshilfezentrums in Manchester mit Blumer Lehmann. Doch ihre bisher innovativste Holzkonstruktion bauten die Ostschweizer auf dem eigenen Firmengelände. Gemeinsam entwarf eine Spezialistengruppe ein neues Hauptgebäude, das die Expertise und Architekturbegeisterung des Holzbauers feiert: Während K&L Architekten die Gestaltung des Gesamtprojekts bearbeiteten, entwickelten Forschende des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen der Universität Stuttgart und das Geometrie-Team von Blumer Lehmann die gekrümmten und geneigten Bauteile. Der Bau gibt dem über Jahrzehnte gewachsenen Bauensemble aus Modul- und Elementproduktion, Produktion, Silo- und Anlagenbau, Kraftwerk und Pelletwerk endlich ein Zentrum und ist der neue Mittelpunkt des Gemeinschaftslebens auf dem Erlenhof.

Das Atrium ist aus gekrümmten Brettsperrholzplatten mit nur zwei unterschiedlichen Radien konstruiert. Die 13 Zentimeter dicken Umfassungswände tragen nicht nur die Treppenkonstruktion, sondern übernehmen auch einen Teil der Lasten von Geschossdecken und Dach. (Foto: © Jan Thoma | Blumer Lehmann)
Nach oben verjüngt sich das Atrium leicht. Den Abschluss bildet ein pneumatisches ETFE-Folienkissen mit einem Durchmesser von 8.5 Metern. (Foto: © Jan Thoma | Blumer Lehmann)
Computergesteuerte Bauprozesse

Herzstück des Stammhauses ist ein spektakuläres Atrium, das mit seiner räumlichen Komplexität fesselt und zum Staunen bringt. Im Inneren der frei geformten Holzkonstruktion schraubt sich eine breite Treppe nach oben. Sie verbindet die Empfangshalle mit den vier Bürogeschossen. Von oben durch ein luftgefülltes Folienkissen einfallendes Tageslicht verstärkt die eindrucksvolle Raumwirkung: Zwischen den gekrümmten Elementen entwickeln sich lebendige Hell-Dunkel-Kontraste, und die geschwungenen Gratlinien treten kraftvoll hervor. Im zweiten und dritten Obergeschoss wölben sich Balkone mit Sesseln in den Luftraum vor und laden zum Beobachten und Plaudern ein – das Atrium ist nicht nur ein Erschließungsweg, sondern vor allem ein Gemeinschaftsraum. 

Konstruiert haben Achim Menges und sein Forscherteam die tragenden Wände des Atriums aus gebogenen Brettsperrholz-Bauteilen, die Blumer Lehmann mit Holz aus dem eigenen Sägewerk hergestellt hat. Sie bestehen aus kreuzweise verleimten Massivholzplatten, die mithilfe einer Pressform gebogen werden. Das Verfahren beruht auf Erkenntnissen aus zwei Experimentalbauten: dem zur Remstal Gartenschau aus gebogenen Brettsperrholz-Teilen gestalteten Urbach Turm (2019) und einem Aussichtsturm in Wangen im Allgäu (2024). Inzwischen sind die neuartigen Platten unter dem Produktnamen CLT curved verfügbar. Mit einer CNC-Maschine wurden Tausende Verbindungspunkte vorgebohrt, um die Konstruktion mit herkömmlichen Schraubkreuzen und Hartholzdübeln zusammensetzen zu können. 

Die hölzerne Skelettkonstruktion des Tragwerks ist in den Büros offen sichtbar. (Foto: © Jan Thoma | Blumer Lehmann)
Der Naturteppichboden aus Wolle ist umweltfreundlich und hat günstige akustische Eigenschaften. (Foto: © Jan Thoma | Blumer Lehmann)
Die Lehmkühldecken der Besprechungsräume sind rot eingefärbt. Grün lasierte Weißtanne umhüllt den Gebäudekern. (Foto: © Jan Thoma | Blumer Lehmann)
Architektur statt aufwendiger Haustechnik

Während das Atrium mit seiner einzigartigen Formenwelt verzaubert, bieten die Büroräume 180 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern großartige Arbeitsbedingungen. Ihre Schreibtische sind in den Obergeschossen entlang der Fassaden angeordnet, während der mit grün lasierter Weißtanne verkleidete Gebäudekern neben Lift und Fluchttreppenhaus Sanitärräume, Sitzungszimmer, Teeküchen und Garderobennischen aufnimmt. Lehmputz und das sichtbare Tragwerk aus mächtigen Holzstützen und Holz-Beton-Holz-Verbunddecken sorgen für ein behagliches Raumklima, Akustikpaneele und ein Naturteppichboden aus Wolle schlucken den Schall. Eine Klimaanlage besitzt das Stammhaus der Umwelt zuliebe nicht. Stattdessen hält die Architektur die Raumtemperatur auch an heißen Sommertagen im angenehmen Bereich: Umlaufende Balkone spenden Schatten. Die Sonnenschutzrollos sind ganz außen am Gebäude zwischen stehenden Lisenen montiert, damit auch bei geöffneten Fenstern und geschlossenen Jalousien ein angenehmer Durchzug entsteht, während man draußen den nahen Loobach rauschen und Vögel zwitschern hört. Auf der dem Firmengelände zugewandten Gebäudeseite besteht der Sonnenschutz aus Holzlamellen, die auf Abstandsklötzen aufliegen – eine schöne Bezugnahme auf die vor dem benachbarten Sägewerk zum Trocknen aufgestapelten Bretter. Zusätzlich bringen Kühlschlangen dem Erdreich entzogene Kälte in die Büros, und nachts öffnen sich automatisch Fensterflüge, damit das Haus auskühlen kann.

Umlaufende Balkone wirken als Sonnenschutz. (Foto: © Jan Thoma | Blumer Lehmann)
Stehende Lisenen gliedern die Fassade. Auf der dem Werksgelände zugewandten Gebäudeseite schützen gestapelten Holzlamellen vor direkter Sonneneinstrahlung und Lärm. (Foto: © Jan Thoma | Blumer Lehmann)

In den Pausen trifft sich das ganze Blumer-Lehmann-Team in der Cafeteria, die auf der Gebäudesüdseite im Erdgeschoss eingerichtet ist. Elegant geschwungene Barmöbel, ein Kaffeewagen und fröhlich bunte Stühle prägen den gemütlichen Raum. An sonnigen Tagen kann auf der vorgelagerten Terrasse gemeinsam Kaffee getrunken, gegessen oder sogar grilliert werden. Dieser neue Gemeinschaftsort ist allen auf dem Erlenhof sehr wichtig, denn er stärkt den Teamzusammenhalt noch mehr, der Blumer Lehmann ausmacht und mit Ritualen wie der gemeinsamen »Znünipause«, aber auch Feiern, Ausflügen und einer Firmenzeitschrift gepflegt wird.

Blick in die Cafeteria mit geschwungener Bar. Sie ist der neue Dreh- und Angelpunkt des Gemeinschaftslebens auf dem Erlenhof. (Foto: © Jan Thoma | Blumer Lehmann)
Eine Holzfaltwand erlaubt, Cafeteria und Veranstaltungsraum zusammen zu schalten. (Foto: © Jan Thoma | Blumer Lehmann)
Ein Haus, zwei Welten

Der reizvolle Kontrast zwischen der Freiform-Architektur des Atriums und den mit Naturbaustoffen wohlig gestalteten Büroräumen macht die Kraft des Stammhauses aus. Meisterhaft ist dem Architektenteam eine stimmige Komposition ganz unterschiedlicher Atmosphären und Formenwelten gelungen. So wird der Besuch im Stammhaus zum architektonischen Genusserlebnis. Blumer Lehmann kann mit seinem Hauptgebäude die ganze Bandbreite des modernen Holzbaus zeigen: Je nach Architekturgeschmack und Bauaufgabe lassen sich mehrfachgekrümmte Freiformen ebenso aus Holzbauteilen konstruieren wie umweltfreundliche, ressourcenschonende Lowtech-Bauten.

Die Entwurfsidee: Wie ein ausgehöhlter Baumstamm wächst das frei geformte Atrium durch das Haus und verbindet alle Geschosse miteinander. Auf dieses Konzept bezieht sich der Name Stammhaus. (Modellfoto: © K&L Architekten)
Grundrisse von unten nach oben: Untergeschoss, Erdgeschoss, 1. bis 4. Obergeschoss (© K&L Architekten)

Projektinformationen Stammhaus Blumer Lehmann
 
Standort
Gossau, Kanton St.Gallen, Schweiz
 
Bauherrschaft
Blumer Lehmann, Gossau
 
Architektur
K&L Architekten, St.Gallen

Entwurf Atrium 
ICD Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (Professor Achim Menges), Universität Stuttgart 

Tragwerksplaner Atrium
SJB Kempter Fitze AG, Zürich
 
Vergabe
Direktauftrag, 2021

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