Von Brüssel lernen

Elias Baumgarten
24. Oktober 2024
Blick auf Brüssels Quartier Nord (Foto: © Filip Dujardin)

Viele Architektinnen und Architekten hierzulande wertschätzen die Arbeit ihrer belgischen Kollegen sehr. Nicht umsonst hat die ETH Zürich in den letzten Jahren gleich mehrere Lehrstühle an Gestalter aus dem westeuropäischen Land vergeben. Nun beleuchtet das Schweizerische Architekturmuseum (S AM) mit der Ausstellung «Soft Power – Stadtmachen nach Brüsseler Art», wie in Belgiens Hauptstadt zukunftsweisende Architektur entsteht. Wie oft, wenn das Museumsteam seinen Blick ins Ausland richtet, geht es dabei um ein «Learning from». Was also können wir uns von der belgischen Architekturkultur abschauen?

Wettbewerbe als Ideenschmiede

Einen entscheidenden Beitrag zur hohen Architekturqualität in Brüssel leistet der Bouwmeester Maître Architecte: Mit seinem Team berät Kristiaan Borret die Stadt, aber auch private Bauherrschaften, organisiert für sie Wettbewerbe und verleiht Auszeichnungen. Bei Bauprojekten von über 5000 Quadratmetern ist die Zusammenarbeit mit ihm sogar Pflicht, sonst erteilen die Behörden keine Baugenehmigung. Gleichzeitig müssen die Ratschläge des Bouwmeesters nicht befolgt werden – er ist kein politischer Amtsträger. Es scheint gerade diese Rolle des neutralen Experten zu sein, die Borret ermöglicht, die Stadtentwicklung zu steuern. Sein wichtigstes Werkzeug dabei sind Wettbewerbe: Über 400 hat er mit seinem Team inzwischen durchgeführt. Und oft haben sie besonders kreative, zukunftsweisende Entwürfe hervorgebracht.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um das hiesige Wettbewerbswesen interessieren diese «Open Calls» das S AM-Team besonders. Während in der Schweiz offene Wettbewerbe gerade junge Architektinnen und Architekten zur Selbstausbeutung antreiben und geladene Verfahren mit Honorar nur den Etablierten offenstehen, geht es in Brüssel fairer zu: In einer ersten Bewerbungsrunde, bei der alle mitmachen dürfen, werden drei bis fünf Büros anhand eines Motivationsschreibens, ihrer Erfahrung und Expertise ausgewählt – was ausdrücklich nicht bedeutet, dass sie wie etwa in Deutschland schon viele Bauten gleicher Grösse gestaltet haben müssen. In der zweiten Phase arbeiten sie gegen Bezahlung einen konkreten Entwurf aus. 

Beim Projekt Manufakture, das sich noch im Bau befindet, entsteht ein Schwimmbad über Parkdecks und Produktionsräumen. In «Soft Power» sind Gebäude zu sehen, bei denen die Industrie wieder zum Teil der Stadt wird. (Visualisierung: © Baukunst)
Die Büros 51N4E, l’AUC und Jaspers-Eyers haben die Türme I und II des Brüsseler World Trade Centers umgebaut und um eine neue Hochhausschreibe ergänzt. Elemente aus abgebrochenen Gebäudeteilen wurden wiederverwendet. (Foto: © Filip Dujardin)
Erfrischende Ideen

Dieses Format vermehrt auch in der Schweiz einzusetzen, dafür sprechen die Resultate, die in «Soft Power» zu sehen sind: Nachdem im ersten Raum die Arbeit des Bouwmeesters vorgestellt wird, ist die zweiteilige Enfilade des S AM mit 15 Projekten aus den letzten zehn Jahren gefüllt, die beispielhaft für das Architekturgeschehen in Brüssel sind. Bei allen war Kristiaan Borrets Team Berater, Vermittler oder organisierte den Wettbewerb – mehr dazu erfahren die Museumsgäste in einem Audioguide, den sie über QR-Codes abrufen. Sortiert nach fünf Themen, werden die Arbeiten mit grossen Modellen, Plänen, Beschreibungstexten und teils auch Materialproben vorgestellt. 

Besonders fallen beim Erkunden der beiden Ausstellungsräume die vielen ungewöhnlichen Ansätze auf: Das Büro Baukunst stapelt bei seinem Projekt Manufakture ein Schwimmbad über Parkdecks und Produktionsräume, in denen Fleisch verarbeitet wird. 51N4E, l’AUC und Jaspers-Eyers haben zwischen den Türmen des Brüsseler World Trade Centers eine neue Hochhausscheibe eingefügt. Der so entstandene Hybrid beherbergt Wohnungen und Hotelzimmer im Bestand und doppelstöckige Büros im Neubau. Hinzu kommen Freizeiteinrichtungen und Geschäfte im Sockel, was für eine bessere Verknüpfung mit dem Quartier sorgen soll. Das Büro Quest hat zusammen mit den Re-Use-Spezialisten von Rotor für die Kulturorganisation Zinneke das Ensemble einer früheren Druckerei umgebaut. Entworfen haben das Projekt Bauherrschaft und Architekten in einem ko-kreativen Prozess, gebaut wurde mit gebrauchten Teilen.

Der Sitz der Kulturorganisation Zinneke ist in einer früheren Druckerei eingerichtet. Das Team von Quest hat den Umbau gemeinsam mit der Bauherrschaft entworfen. (Foto: © Delphine Mathy)
Im «Open Call» zur Ausstellungsgestaltung

Zusätzlich sind einige der Bauten im letzten Raum der Schau auf bewegten Standbildern des Architekturfotografen Maxime Delvaux zu sehen. Diese von einer Soundlandschaft untermalte Installation rundet «Soft Power» ab: Sie zeigt, dass Brüssel keine homogene, pittoreske Stadt ist, sondern von Brüchen und Vielfalt lebt. Erdacht hat das gelungene Ausstellungsdesign Asli Çiçek. Die Architekturprofessorin gewann einen Wettbewerb, der passenderweise nach dem Vorbild der Brüsseler «Open Calls» veranstaltet wurde: In der ersten Phase gingen 61 Bewerbungen ein, drei Teams wurden dann eingeladen, einen Vorschlag zu unterbreiten.

15 Projekte werden in der Ausstellung mit grossen Modellen gezeigt. (Modellfoto: © Sophie Dars, Pierre Leguillon und Daidalos Peutz)
Aus Schweizer Perspektive

«Braucht es denn noch eine Ausstellung zur belgischen Architektur?», mag sich mancher Besucher im Vorfeld fragen. Schliesslich wurden Projekte aus Belgien zuletzt vielfach besprochen, und auch die Arbeit der Bouwmeester war in der Arch+-Ausgabe «Normcore: Die Radikalität des Normalen in Flandern» schon vor Jahren Thema. Doch dem S AM-Team ist es sehr gut gelungen, seine Betrachtung der Brüsseler Architekturkultur mit dem aktuellen Schweizer Diskurs zu verknüpfen. Das gilt nicht nur beim Thema Wettbewerbe, sondern auch für die gezeigten Bauten und Entwürfe: Gerade die unorthodoxen Funktionsmischungen, die Beteiligungsverfahren und die Re-Use-Projekte sind wertvolle Inputs für den Schweizer Diskurs.

 

Die Ausstellung «Soft Power – Stadtmachen nach Brüsseler Art» ist noch bis zum 16. März 2025 im S AM zu sehen (Steinenberg 7, 4001 Basel). Sie wird ergänzt durch ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm

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