Wie das Unfertige zum Vorbild werden kann

Susanna Koeberle
13. Oktober 2022
Die Vorträge der Biennale des i2a (hier von Anupama Kundoo) fanden im italienischen Konsulat statt. (Foto: Alessandro Tomarchio)

Seit 2016, als die erste Biennale Svizzera del Territorio stattfand, hat sich vieles verändert. Vielleicht hat sich auch nicht per se etwas geändert, denn die Krisen, die uns heute beschäftigen, haben sich schon länger angekündigt. Sie sind in diesem Sinne nichts Neues, es ist unsere Wahrnehmung, die sich gewandelt hat. Dafür ist es auch höchste Zeit. Diesen Wandel führen auch die zahlreichen Inputs – Vorträge, Round-Table-Gespräche, Filme, Spaziergänge und viele andere Interventionen von rund 80 (!) Beteiligten – vor, die an der vierten Edition der Biennale i2a einem interessierten Publikum geboten wurden. Die zwei Tage lieferten nicht nur geistige Nahrung, denn für Ludovica Molo, die Direktorin des Tessiner Architekturinstituts, ist auch die «Konvivialität» (ein Begriff, den der Philosoph Ivan Illich geprägt hat) im Sinne eines Miteinander-Seins zentral. Dem gemeinsamen Essen, Spazieren, Tanzen und Reden wurde bei der Organisation des Events – durch mittlerweile fünf Kurator*innen – die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wie dem eigentlichen Programm. Und dieses war heuer so dicht wie noch nie. Dazu trugen auch neue Formate bei wie die «Call for Action» und die «Call for Pecha Kucha», mit denen man bewusst eine jüngere Generation ansprach und an der Biennale beteiligte. Diese Dynamik widerspiegelte sich in den sieben (aus den 70 eingereichten) ausgewählten «Aktionen», welche die Vorträge der geladenen Gäste durch eine physische Umsetzung von Ideen ergänzten. Die Stimmung dieser zwei intensiven Tage war gleichermassen ausgelassen und konzentriert.

Nachdem das Symposium am Donnerstagabend an der Accademia di Mendrisio mit einer Gesprächsrunde zum Thema der diesjährigen Biennale, dem «(non)finito», eröffnet worden war, migrierte die Veranstaltung in ihr angestammtes Domizil Lugano. Die Biennale-Kurator*innen luden Teilnehmende zu einem ausgedehnten Spaziergang ein, der vom Lago di Muzzano bis zum Seeufer von Lugano führte. Immer wieder wurde Halt gemacht, was dem Architekten Marco Del Fedele sowie den beiden Landschaftsarchitekten Federico De Molfetta und Hope Strode Gelegenheit bot, über einen geplanten Weg zu sprechen, der das zum urbanen Geflecht gehörende Gebiet um den kleinen Lago di Muzzano mit der eigentlichen Stadt verbinden soll. Ebenso zur Sprache kamen unterschiedliche botanische Probleme wie das Thema invasive Neophyten oder ein Parasit, der Kastanienbäumen zu schaffen macht, sowie allgemein der prekäre Zustand vieler Pflanzenarten, denen der Klimawandel zusetzt. Der Spaziergang machte deutlich, wie wichtig es ist, angesichts der Klimakrise die Dichotomie von Natur und Kultur neu zu denken. Dazu gehört ebenso das Verbinden der beiden Disziplinen Architektur und Landschaftsarchitektur. Das «territorio» (auf Italienisch hat dieses Wort eine breitere Bedeutung als nur Landfläche) bedarf eines Zusammenwirkens der beiden Ansätze, wie auch verschiedene spätere Beiträge zeigten.

Die Landschaftsarchitekten Federico De Molfetta und Hope Strode erklärten an einem Spaziergang die Landschaft und ihre Veränderung. (Foto: Alessandro Tomarchio)

Obwohl das Motto «(non) finito» einen grossen Interpretationsspielraum erlaubte, ist es interessant, dass die vielen Vorträge und Inputs ähnliche Fragestellungen adressierten. Zu den häufig behandelten Themen gehörten Ressourcen, Erhalt, Sorge, Offenheit, Transformation und Kollektiv, Letzteres im Hinblick auf die veränderte Vorstellung von Autorschaft. Diesen Termini gemeinsam ist ein Paradigmenwechsel im Verständnis der Rolle der Architekt*innen. Diese wurde im Verlauf der letzten Dekaden wiederholt reflektiert, das ist so gesehen keine Neuheit, doch die Dringlichkeit, mit der das heute geschieht, ist eine andere. Davon zeugt schon nur die Tatsache, dass sich auch in der Lehre einiges tut. Ein Beispiel dafür ist etwa die Arbeit des französischen Architekten und Philosophen Paul Landauer, der 2018 in Paris einen Master in «Transformation» ins Leben rief. In seinen Ausführungen ging es im Wesentlichen um Ressourcen und ihre Nutzung. Drei Beispiele von «Reparationen» zeigten, wie Architekt*innen mit dem arbeiten, was da ist. Und wie heute beim Bauen das Thema Erhalt (maintenance) gleich von Anfang an mitgedacht werden sollte. Denn gerade die materielle Verseuchung vieler Bauten zeigt, wie lange uns diesbezügliche Fehler beschäftigen.

Den materiellen natürlichen Ressourcen und ihrer Endlichkeit stellte die indische Architektin Anupama Kundoo die Unendlichkeit der menschlichen Ressourcen entgegen. Mit der Fülle der menschlichen Fertigkeiten – und damit meinte sie in erster Linie handwerkliche – müsse man stärker arbeiten, findet sie. Denn diese würden auch für die zeitliche Dimension jedes Bauwerks stehen – überhaupt jeder Tätigkeit. Vielleicht zeigt uns gerade die Beschleunigung vieler Prozesse, dass wir uns mehr Zeit nehmen sollten, nicht nur in der Architektur. Kollektive Autorschaft und das Denken mit den Händen sind in Kundoos Augen Themen, die in der Lehre stärker verankert werden sollten, denn Praxis und Theorie bedingen sich gegenseitig. Auch diese Erkenntnis ist nicht grundlegend neu, aber sie ist nichtsdestotrotz vielerorts vergessen gegangen. Damit geht auch viel Wissen verloren. Kundoos Optimismus sowie ihr undogmatischer Umgang mit Materialien stimmen zuversichtlich. Erstarren als Verhaltensmuster wäre in der aktuellen Situation nämlich fatal.

Der Vortrag der französischen Philosophin Marielle Macé war ein wunderbarer Exkurs in das Thema der Atmung. (Foto: Alessandro Tomarchio)

Nach einem dichten Nachmittag mit einem Round-Table-Gespräch zum Thema neue Wohnkonzepte hätte man nicht geglaubt, dass die Aufmerksamkeit noch für einen weiteren Vortrag reichen würde. Doch es kam anders: Der Beitrag der französischen Philosophin Marielle Macé wurde zum (er)leuchtenden Abschluss des Tages. Ihre Reflexionen zu den Wörtern «respirer» und «conspirer» (atmen und konspirieren, beziehungsweise mit-atmen) gingen von der Feststellung eines «monde abimé» (beschädigte Welt) aus, die auf die Atemlosigkeit unserer Zeit aufmerksam machte. Sie las das Atmen als grundlegende Teilhabe an der Welt, die auch mit einem Recht auf Atmung verbunden sei. Genau dieses ist in der Epoche des Anthropozäns oder angesichts der Pandemie bedroht. Aber auch die politische Dimension des Atmungsvorgangs oder vielmehr seiner Unterbrechung zeigte sie auf: Die Worte «I can’t breathe» wurden zum Symbol der Ungerechtigkeit, mit der ein ausbeuterisches System Menschen behandelt, die nicht in das (vor)herrschende kulturelle und ökonomische Schema passen. Was kann die Architektur daraus lernen? Dass Ökologie eben mehr ist als eine materielle oder technische Frage beziehungsweise, dass auch Luft ein Material ist, dem Architekt*innen Sorge tragen müssen. Die Luft ist das, was alle Menschen miteinander verbindet. Macé plädierte für eine politische Ökologie des Atmens. Der offizielle Teil des Abends schloss mit einem Film zur Nutzung unfertiger Bauten durch die Skaterszene in Sizilien. Die Fotos, die diese besondere Nutzung des städtischen Raums dokumentieren, waren im Park der Villa Saroli – dem Sitz des i2a – ausgestellt, wo auch die Interventionen der «Call for Action» zu sehen waren. Auch einige Luganeser Skater*innen waren bei der Vorführung anwesend – eine schöne Erweiterung des Publikums.

Eines der «Call for Action»-Projekte war ein Hammam von Comte/Meuwly, Arnaud Eubelen und David Moser. Wie man sieht, wurde er genutzt. (Foto: Alessandro Tomarchio)

Der nächste Tag fächerte das Thema der Biennale weiter auf und brachte viel Spannendes und Unerwartetes; unter anderem auch einen «territorialen» Wechsel der Szenerie. Die Referate fanden aus Platzgründen in einer dem Institut nahe gelegenen Örtlichkeit statt. Unter den vielen Vorträgen des zweiten Tages seien an dieser Stelle besonders die «Regards Croisés» von Milica Topalovic (Professorin an der ETH Zürich) und Mirko Zardini (Architekt, Kurator und Autor) hervorgehoben. Der Beitrag von Topalovic befasste sich mit dem Thema Agrikultur und zeigte, dass «Feldarbeit» auch zu den Tätigkeits- und Denkfeldern angehender Architekt*innen gehören sollte. Insbesondere das Beispiel der Schweiz macht nämlich deutlich, wie stark sich die Landwirtschaft gewandelt hat. Bauern und Bäuerinnen machen nur drei Prozent der Bevölkerung aus. Diese Zahl wirft auch die Frage nach dem Wert beziehungsweise einer Neubewertung von ruralen Gebieten auf. Dass diese wichtig sind, steht ausser Diskussion. Stadt und Land werden zu Indikatoren einer Mentalitätsdivergenz, die sich auch im Verständnis des Bauernberufs manifestiert, der nach wie vor männlich definiert ist. Diese Denkweise ist definitiv überholt. 

Eine mögliche Lösung der Landswirtschafts-Problematik wäre, die Agrikultur vermehrt in die Stadt zu bringen. Noch wichtiger wäre es, Boden als solchen zu schützen, auch gesetzlich. Nicht die Agrarindustrie, sondern die Agrarökologie ist unsere einzige Chance, dem Klimawandel und den damit verbundenen Herausforderungen zu begegnen. Topalovic betonte im folgenden Austausch mit Zardini den Unterschied zwischen den Verben «to fix» (flicken) und «to repair» (reparieren), wobei Letzteres eben die Idee des Sorgetragens beinhaltet. Wie das Bild der Landschaft ein Werkzeug sein kann, um Veränderung als solche zu verstehen, zeigten die brillanten Ausführungen von Mirko Zardini. Er skizzierte eine Geschichte der Krisen und verwies dabei auf die Vergesslichkeit des Menschen. Heute können wir es uns allerdings nicht mehr leisten, zurück zur Normalität zu gehen, wenn die Krise «vorbei» ist. Der Architektur komme diesbezüglich eine wichtige Aufgabe zu, glaubt er. Sie könne dazu beitragen, Probleme zu formulieren und sich auf Krisen vorzubereiten.

Ausstellung aller eingereichten «Call for Action»-Vorschläge in der Limonaia des Parco Saroli (Foto: Paolo Abate)

Einen Ortswechsel brachte wie weiter oben angetönt Bewegung in die Veranstaltung. Die Runde unter der Moderation der Architektin und Urbanistin Charlotte Malterre-Barthes umkreiste die Idee der Sorge (care) auf weiteren Ebenen und zeigte, wie viel Potenzial in diesem einfachen Konzept steckt – und wie viel Handlungsbedarf. Das Büro Bessire Winter inszenierte zusammen mit Stefan Wülser – ihr Beitrag «territorial shift» war Teil der «Call for Action» – die Verlagerung der Veranstaltung mit einer kleinen Performance. Die Teilnehmenden wurden nach einer Einführung aufgefordert, einen Klappstuhl zur Hand zu nehmen und dem Team zu folgen. Nach einem kurzen Spaziergang fanden sich alle in einer gedeckten offenen Infrastruktur ein, die an alte Markteinrichtungen erinnerte. Diese soll übrigens demnächst abgerissen werden, was die Wahl des Ortes noch brisanter machte. Hier wurde mit wenigen Handgriffen eine Fläche für den letzten Talk der Biennale kreiert. Kaffee, Kuchen und auch Spirituosen sorgten für das leibliche Wohl der Zuhörer*innen.

Improvisiertes Setting für den letzten Talk der Biennale (Foto: Alessandro Tomarchio)

Nach einer wohlverdienten Essenspause im Park folgten die beiden Schluss-Happenings, die auch dank ihres transdisziplinären und performativen Charakters eine besondere Freude waren. Eine angekündigte Filmvorführung entpuppte sich als «Audio Walk» des Teams Bessire Winter Wülser durch das nächtliche Lugano, bei dem sich der Film quasi in den Köpfen der Teilnehmenden abspielte. Text- und Soundausschnitte aus Filmen wurden durch kleine Ereignisse aufgelockert. Das Ganze war nicht nur äusserst vergnüglich, sondern präzise durchdacht in der Wahl der unterschiedlichen Örtlichkeiten und professionell ausgeführt, was die technische Umsetzung betraf. Zurück in der Villa Saroli wurde man mit einem Film von Aline d’Auria und einer Live-Vorführung durch den Musiker Francesco Giudici in die magische Welt der Wölfe entführt. Dass eine Architekturveranstaltung so vielschichtig und divers ist, kommt selten vor. Die Biennale svizzera del territorio zelebriert genau mit dieser Fülle die Fähigkeit von Architektur in ständiger Bewegung zu bleiben. 

Das Projekt «Territorial Shift» bestand in einem nächtlichen «Audio Walk» durch Lugano. (Foto: Alessandro Tomarchio)

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