Mutig und visionär

Rahel Lämmler | 28. Februar 2025
Die Neonbuchstaben über dem Eingang stehen für die Rückkehr von Leben und Kultur in den fast 100-jährigen Bau. (Foto: © Ladina Bischof)

Der letzte Film, den ich in einem meiner Lieblings-Kinos gesehen habe, war »Anatomie d’une chute« mit der großartigen Schauspielerin Sandra Hüller. Seit 1927 war das Lichtspielhaus ein Ort der Zerstreuung für die Arbeiter der umliegenden Quartiere. Ursprünglich als Stummfilmkino mit Hauskapelle betrieben, ermöglichte ein Umbau in den späten 1960er-Jahren Unterhaltung mit Heimatfilmen und bald auch Studiofilmen. Mir bleibt dieses Kino als offener und unkomplizierter Treffpunkt abseits der Norm bestens in Erinnerung. 2024 verliert die Kulturszene mit der Schließung einen weiteren wichtigen Treffpunkt. Die Gründe für das landesweite Kinosterben sind vielfältig und reichen von den erheblichen finanziellen Einbußen während der COVID-19-Pandemie über attraktive Streaming-Dienste bis hin zu neuen konkurrenzierenden Freizeitangeboten.

Das Kino Apollo in Kreuzlingen hat seine Türen bereits 1976 geschlossen, als sich Fernseher endgültig durchgesetzt hatten und im nahe gelegenen Konstanz die Filme aktueller waren und günstiger zu konsumieren. Für viele Kinobetreiber war zudem der technische Wandel zu 70-Millimeter-Format und Mehrkanalton eine unüberwindbare Hürde. Einige versuchten sich mit pornografischen Filmen über Wasser zu halten, doch Ernst Gutheinz, der Gründer des Apollo, hielt unbeirrt an seinen hohen Ansprüchen fest. In den Jahren vor der Schließung waren Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, vorwiegend aus Italien, sein Zielpublikum. In Konstanz wurden die Filme synchronisiert in Deutsch gezeigt, was für das Apollo eine willkommene Marktlücke bedeutete. Hier wurden sie »parlato in italiano« vorgeführt. Das Lichtspielhaus avancierte zu einem wichtigen Treffpunkt für die italienische Bevölkerung in Kreuzlingen. Sie kamen, um unter Gleichgesinnten Bilder der Heimat zu sehen und das Heimweh etwas zu besänftigen. Gutheinz wählte die Filme immer gezielt aus. Moralisch verwerfliche Filme zeigte er nicht. Jugendliche gehörten daher ebenso zu seinem Stammpublikum.

Das Apollo befindet sich an einem Kreisverkehr nahe dem Bahnhof von Kreuzlingen auch heute noch in bester Lage. (Foto: © Ladina Bischof)

Fast ein Jahrhundert lang prägte die Familie Gutheinz die Geschichte des Apollo. Vater Julius betreibt ab 1925 das Kino Bodan an der Hauptstraße in Kreuzlingen. Es existiert heute nicht mehr. Sein Sohn Ernst Gutheinz führt den Kinobetrieb nach dem Tod seines Vaters 1928 zusammen mit seiner Mutter Marie weiter. Hinter einer Leinwand versteckt, begleitet er selbst die Stummfilme auf dem Klavier. Das Geschäft lief auch mit diversen Investitionen in technische Erneuerungen so gut, dass 1932 das Kino Apollo an der Konstanzerstrasse 32 von Baumeister Gottlieb Kugler gebaut werden konnte. In Bahnhofsnähe und prägnant am Verkehrskreisel positioniert, ist die Lage bis heute vorteilhaft.

Die Grundzüge und Hauptmerkmale des eleganten kubischen Baukörpers sind auch nach beinahe 100 Jahren überzeugend. Der zweigeschossige axialsymmetrische Kopfbau orientiert sich mit zwei Eingängen und Schaufenstern zur Konstanzerstrasse, während sich der Kinosaal parallel zur Rheinstrasse und rückwärtig in den Garten erstreckt. Ein langes filigranes Betondach fasst die Erdgeschosselemente zusammen und akzentuiert gemeinsam mit der dreistufigen steinernen Freitreppe den Eingangsbereich auf subtile Art und Weise. Alle Öffnungen sind mit Kunststeingewänden eingefasst und wohl proportioniert im bauzeitlichen Strukturputz eingebettet. Auf der mittig erhöhten Frontmauer thronen die wirkungsvollen Leuchtbuchstaben APOLLO.

Architektonisch überzeugt der Kinobau von Gottlieb Kugler auch fast ein Jahrhundert nach seiner Erstellung noch. Über der Straßenfassade prangen die Leuchtbuchstaben APOLLO. (Foto: © Ladina Bischof)

Nach der Schließung 1976 verblieb das Bauwerk glücklicherweise nicht nur in der Familie, sondern die Tochter bewohnte bis zu ihrem Tod 2021 die Wohnung im oberen Geschoss. So wurde es in einem ersten Schritt der Spekulation entzogen. Mit wenigen Eingriffen gelang es der damaligen Eigentümerin, das Filmtheater als Trainingshalle für Karate, Aikido und Qi-Gong umzunutzen. Der schräge Boden der Kinobestuhlung wurde entfernt und Duschen wurden eingebaut. Der imposante Vorhang, dekorative Leuchten, die charakteristisch ondulierten Wände, die Kinokasse und viele weitere bauzeitliche Elemente sind dagegen erhalten geblieben. 

Ein wichtiger Schritt für das kollektive Gedächtnis war 1993 die Aufnahme des Baus durch die Denkmalpflege des Kantons Thurgau in das Hinweisinventar. Der dritte Glücksfall war der Kauf der Liegenschaft durch die Unternehmerin Barbara Haller vor drei Jahren. Zufällig hatte sie vom Verkauf erfahren. Ihre Faszination für alte Gebäude und die Beratung durch eine befreundete Architektin verhalfen ihr zu einer raschen Entscheidung. Ohne genau zu wissen, wie sie die Liegenschaft nutzen wird, hat sie sich sofort beworben – und den Zuschlag erhalten. Was macht man nun mit einem sanierungsbedürftigen Kino, einer Wohnung und einem weitläufigen Garten? Das Zauberwort lautet: Zwischennutzung. Während das Dach geflickt, die Wände gestrichen und kleinere Reparaturen vorgenommen wurden, kam im März 2023 die Anfrage zur Teilnahme an der viel besuchten Kunstnacht. Dies war die Wiederbelebungsspritze und der Auftakt als Zwischennutzung. Nach nur zwei Jahren hat sich bereits ein lebendiger Kulturbetrieb mit beachtlichem Programm etabliert. Haller beschreibt diesen Prozess als einen spannenden Weg von der Zwischennutzung zu etwas Unbekanntem, in dem sich Menschen inspirieren und Neues entstehen kann.

Eine Zwischennutzung brachte neues Leben in das Baudenkmal. An der Bausubstanz wurden kleine Reparaturen und Instandsetzungsarbeiten vorgenommen. (Foto: © Ladina Bischof)

Im monatlichen Kult-Kino werden in Absprache mit dem Filmforum KuK Kult-Filme wie »Pulp Fiction« gezeigt. Im Saal mit ehemals 330 Plätzen sind jeweils 40 bis 80 Leute zugegen, die Kultur-Bar wird ebenfalls von einem breiten Publikum besucht, Kunstausstellungen und Konzerte bereichern das vielfältige Programm. Gastspiele leisten einen wichtigen Beitrag in die Vereinskasse. Sie werden sorgfältig kuratiert, das geistige Erbe von Ernst Gutheinz lebt so weiter. Der Kanton Thurgau und insbesondere Kreuzlingen sind bekannt für eine lebendige Kulturszene. Das Apollo ist somit in bester Gesellschaft und bietet Raum für Neues. Generationen- und grenzüberschreitend sei das Publikum wie auch die Mitarbeitenden, die den Verein tatkräftig unterstützen, ergänzt Barbara Haller mit strahlenden Augen. Die Neonbuchstaben auf dem Dach leuchten nun seit zwei Jahren auch wieder. 

 

Gutes Bauen Ostschweiz möchte die Diskussion um Baukultur anregen. Die Artikelserie behandelt übergreifende Themen aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur. Sie wurde lanciert und wird betreut durch das Architektur Forum Ostschweiz (AFO). Das AFO versteht alle Formen angewandter Gestaltung unserer Umwelt als wichtige Bestandteile unserer Kultur und möchte diese in einer breiten Öffentlichkeit zur Sprache bringen. 

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Rahel Lämmler hat an der ETH Zürich Architektur studiert. Sie lebt und arbeitet als Beraterin, Architektin und Autorin in Zürich und im Appenzellerland. 

rahellaemmler.ch

Vorgestelltes Projekt 

Oliver Christen Architekten

Wohnhaus Burgmatt

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