Alexander der Bunte

Jenny Keller
23. März 2016
Miller House, Columbus, Indiana, USA, A. Girard, 1953 bis 57. Bild: Balthazar Korab courtesy of The Library of Congress

Das Vitra-Designmuseum in Weil am Rhein zeigt eine Retrospektive zu Alexander Girard (1907 bis 1993). Girard prägte die Ästhetik des amerikanischen Designs der Nachkriegszeit und ist dafür ziemlich unbekannt. Er war Designer, Architekt, Inneneinrichter und Textilgestalter. Er war Stylist und Dekorateur und war beruflich und privat mit Charles und Ray Eames und Eero Saarinen verbunden. Aufgewachsen in Florenz als Sohn einer amerikanischen Mutter und eines französisch-italienischen Vaters studierte Alexander Girard in London Architektur, um später nach New York, Detroit und Grosse Point (ebenfalls in Michigan) zu ziehen. 1953 übersiedelte Alexander Girard mit seiner Familie in die Kleinstadt Santa Fè im amerikanischen Südwesten, und New Mexico sollte seine Wahlheimat bleiben. Sein Enkel Kori Girard, der in New Mexico aufgewachsen ist, und der mit seiner Schwester Aleishall das Erbe des Grossvaters verwaltet und an der Ausstellung in Weil am Rhein mit beteiligt war, meinte, dass man an diesem Fleck von Amerika den Geist der alten Welt, des Ursprünglichen und Volksnahen noch immer spüre – und dass diese geographische und atmosphärische Eigenart von New Mexico Einfluss auf die Welt des Grossvaters gehabt habe. Girard selbst gab an, sich seiner ersten Heimat Italien wegen dem Licht und der Bauten in New Mexico nahe zu fühlen. Alexander Girard war fasziniert von der Volkskunst und sammelte daraus Inspiration für seine eigenen Entwürfe. Von Santa Fè aus war man ausserdem in einem Nachmittag in Mexiko, und im Navajo-Land gab es noch «indianische» Dörfer, in denen traditionelles Kunsthandwerk betrieben wurde.1

Alexander Girard und seine Familie posieren mit Objekten aus seiner Folk Art Kollektion, 1952, © Ezra Stoller / Estostock. Bild: Ezra Stoller

Girard zur richtigen Zeit
Die Nachkommen von Alexander Girard haben dem Vitra-Designmuseum dessen gesamten gestalterischen Nachlass vermacht, darunter mehr als 5’000 Zeichnungen von Textil- und Interiordesignentwürfen, Möbel, Kunstwerke und über 7’000 Fotos, die seine Arbeit der 1930er- bis in die 1980er-Jahre dokumentieren. Das war vor bereits 20 Jahren. Die Aufarbeitung des Archivs nahm natürlich ihre Zeit in Anspruch, aber dass die Ausstellung jetzt gezeigt wird und der Katalog, der als erstes Buch Girards Werk überhaupt versammelt, erst 2016 erscheint, hat auch mit dem heutigen Zeitgeist und der «Mode» im Design zu tun: In den kühlen 1990er-Jahren hätten wenig Besucher Freude an der Farbigkeit und Opulenz von Girards Werken gehabt. Die Ausstellung soll der Start sein, Girards Erbe bekannt zu machen. Sie ist zuerst in Weil am Rhein zu sehen und tourt dann durch Amerika.

Mateo Kries, der Direktor in Weil, nannte Girard einen Postmodernen «avant la lettre», einen Visionär, der die verschiedensten Disziplinen Architektur, Kunst, Produkt- und Textildesign miteinander zu verbinden wusste. Heute ist nicht nur die Postmoderne wieder salonfähig, auch Muster und Farben dürfen wieder ungeniert (ins Haus) getragen werden – und Vitra hat im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Archiv von Girard ihre Accessoire-Linie «Home Complements» ins Leben gerufen, die von der bunten, freudvollen und vielfältigen Welt von Girard inspiriert ist. Vitra hat also selbst daran mitgearbeitet, Girard wieder bekannt zu machen. Auch wenn seine Muster bisher nur auf Papier-Servietten zu sehen waren. Da passt die Ausstellung mit abgestimmtem Museumsshop natürlich in die Marketing-Strategie.

Papierservietten, Alexander Girard, 1953-196, Vitra. Bild: Screenshot vitra.com

Trotzdem ist die Ausstellung «Alexander Girard. A Designer’s Universe» und auch das 500-Seiten dicke Buch dazu sehr zu empfehlen. Das Vitra-Designmuseum hat unter Kurator Jochen Eisenbrand die Welt von Girard anschaulich unter das Dach des Gehry-Baus gebracht. Im Saal 1 lernen wir die Biographie des Gestalters kennen, besonders beeindruckend ist Girards «Republic of Five», ein imaginäres Land, das er als Internatsschüler erfunden hat. Er gestaltete Landkarten, Flaggen, Geld und Briefmarken und schuf so in jungen Jahren seine erste Design-Arbeit ohne Auftraggeber.

In seinen frühen Jahren in New York, vor seiner Heirat mit Susan Needham, war Girards Apartment das Schaufenster seiner Arbeit, heute hätte er wohl nur eine Website. Doch seine Arbeit unterschied sich schon da von den Gestaltungsgrundsätzen der Moderne. Er wollte keine sterilen und standardisierten Räume, sondern durch dekorative Elemente ein sinnliches Erlebnis schaffen.2

Girards Textilentwürfe nehmen den ganzen Saal 2 ein. 1951 wurde er Direktor der neuen Textilabteilung des Möbelherstellers Herman Miller, für den er über zwanzig Jahre hinweg mehr als 300 Vorhang- und Polsterstoffe entwerfen sollte. Auf Reisen sammelte Alexander Girard Textilien, die er akribisch in Musterbüchern archivierte. Die Präsentation der Stoffe in Weil orientiert sich an einer Ausstellung in Minneapolis aus dem Jahre 1975, die den Designprozess bei Herman Miller zum Thema hatte.

Ausstellungsansicht «The Design Process at Herman Miller», Walker Art Center, Minneapolis, Michigan, USA, 1975. Nachlass Alexander Girard, Vitra Design Museum
Von Girard angelegte Aufbewahrungskisten, Nachlass Alexander Girard, Vitra Design Museum / Bild: Andreas Sütterlin

Ganzheitliches Design
Seine Arbeit als Inneneinrichter von Privathäusern  – wie das Miller House in Columbus, Indiana oder sein eigenes Haus in Santa Fè – verstand Girard als «work in progress». Über die Jahre veränderten sich die Interiors. Das in den Fussboden eingelassene Sofa des Miller House (die Architektur stammt von Eero Saarinen) wurde im Saal 3 der Ausstellung, der Höhepunkt der Schau – nachgebildet. Ob sich die Kissen auch mit den Jahreszeiten verändern, so wie sie es bei den Millers taten?

In Vitrinen haben die Ausstellungsgestalter von Raw Edges aus London räumliche Collagen angefertigt, die den vielen Stücken des Archivs gerecht werden, aber auch Girards Arbeitsweise aufnehmen. So schuf er für den Traktorenhersteller John Deere ein dreidimensionales Wandbild zur Firmengeschichte, das von Girard selbst als Gemälde bezeichnet wurde, in dem echte Dinge die Farbe ersetzten. Im Gegensatz zu den Privathäusern waren die Interieurs für Restaurants als in sich geschlossene Gesamtwerke konzipiert. Die zwei bekanntesten Interiors, das Restaurant «La Fonda del Sol» von 1960 und das Restaurant L’Etoile von 1966 in New York, sind ebenfalls ausgestellt. Hier sieht man die holistische Wirkung von Innenarchitektur: Ist sie gut gemacht, kann sie ein ganzes Gefühl transportieren. In der Arbeit für die Fluggesellschaft «Braniff International Airways» von 1965, die ihr Flugnetz nach Südamerika ausbaute, wird dies auf den Punkt gebracht. Vom Streichholzpäckchen bis hin zu den Flugzeugen in sieben verschiedene Farben hat Girard das ganze Corporate Design geschaffen. Schaut man sich den Werbefilm der Fluggesellschaft an, wünscht man sich in die 1960er-Jahre zurück. Auch, wenn man erfährt, dass Alexander Girard für die Recherche zum Gesamtkonzept der «Fonda del Sol» sage und schreibe sechs Monate in Südamerika herumreisen konnte.

Corporate Design für Braniff International Airways, 1965. Bild: Nachlass Alexander Girard, Vitra Design Museum
Grafik mit Entwürfen für Streichholzschachteln für das Restaurant La Fonda del Sol, Alexander Girard, 1960 / Nachlass Alexander Girard, Vitra Design Museum
Cocktail-Lounge «L’Étoile» gestaltet von Alexander Girard, 1966. Bild: Eames, Nachlass Alexander Girard, Vitra Design Museum


Gehrys Museum ist wohl nicht leicht zu bespielen. Als Besucherin fragt man sich immer, wie man den oberen Stock in die Ausstellung integrieren soll und kann. Auch bei der jetzigen Ausstellung fällt der obere Stock vom Rest ab. Zwar ist die Volkskunst als Einfluss auf Girards Werk nicht wegzudenken, doch statt der aus dem «Museum of International Folk Art» in Santa Fè exportierten Objekte, würde man lieber mehr von Girard geschaffene Werke sehen. Zum Glück sind die im Buch zur Ausstellung so gut versammelt.

Anmerkungen
1) Jochen Eisenbrand in «Die Welt als Dorf», A Designer's Universe, Seite 143 und Seite 140
2) Barbara Haus in «Designing for dining: Restaurants von Alexander Girard», A Designer's Universe, Seite 275


Alexander Girard. A Designer’s Universe
Vitra-Designmuseum, Weil am Rhein (D)
bis 29. Januar 2017





Alexander Girard. A Designer’s Universe
Hrsg. Mateo Kries, Jochen Eisenbrand
Leineneinband, 512 Seiten,, rund 530 Abbildungen, überwiegend farbig
ISBN 978-3-945852-04-0


 

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