Art déco in Zürich

Manuel Pestalozzi
25. April 2019
Mehrfamilienhaus im Stil des Art déco an der Zürcher Huttenstrasse. Bild: Manuel Pestalozzi

Das oben abgebildete Haus steht an der Huttenstrasse in Zürich. Jeden Morgen spaziere ich an der Fassade vorbei und freue mich an der kleinen Extravaganz, die man sich hier erlaubt hat. Es handelt sich um die nach Osten, zum freien Gelände hin orientierte Stirnseite. Über dem Sockel ragt ein Erker wie ein Schiffsbug aus der Flucht. Teleskopartig steigt er in zwei Stufen bis zur Dachuntersicht. Die Dachrinne beteiligt sich an der Geste und bildet ihren oberen Abschluss. Eine Geste, mehr nicht.

Auf den ersten Blick scheint das Mehrfamilienhaus ein typischer Zweispänner zu sein, wie er Ende der 1920er- und zu Beginn der 1930er-Jahre zigfach in Zürich gebaut wurde. Als Kind war ich dort ein paar Mal bei einem Freund zu Besuch und weiss deshalb, dass das nicht stimmt: In Wahrheit sind es vier grosszügige Etagenwohnungen, die sich quer durch das ganze Volumen ziehen. Die gegenüberliegende Stirnseite hat dabei keinen Erker, sondern ins Volumen eingezogene Küchenbalkone. Die Rinne darüber läuft ungestört durch. Ich erinnere mich an eine enorm grosszügig geschnittene, lichtdurchflutete Wohnung mit Trennwänden aus Strukturglas – für mich, aufgewachsen in einer Gründerzeitwohnung, damals der Inbegriff von «modern».

Es war eine Fabrikantenwohnung. Vis-a-vis der Erkerfassade, seitlich jedoch von der Strasse zurückversetzt, entstand wenige Jahre nach dem Haus die dazugehörige Fabrik – ein sachlicher Bau mit Flachdach, in dem unter anderem Rasierapparate und technische Spielbausätze hergestellt wurden. Mehrfamilienhaus und Fabrik gingen später im Immobilienbestand des nahen Universitätsspitals auf. Der Wohnbau ist ein Zeugnis des Art déco in der Zürcher Architektur. Der Stil äussert sich diskret, in feinen Gestaltungselementen und Details. Diese verdienen unsere Aufmerksamkeit.

Art déco-Architektur schöpft ihre Kraft aus sorgsam ausgestalteten Details. Bild: Manuel Pestalozzi
Äusserlichkeiten jenseits der -ismen

«Art déco» ist eigentlich ein Sammelbegriff. Zeitlich bezieht er sich auf eine Ära, die in etwa deckungsgleich ist mit den Roaring Twenties – jener kurzen, fiebrigen Boomphase zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Schwarzen Donnerstag, der am 24. Oktober 1929 den Auftakt zur Grossen Depression markierte. Diese Jahre waren geprägt von Jazz und Charleston, von Josephine Baker und F. Scott Fitzgerald. Die Vereinigten Staaten avancierten zur globalen Kulturnation. Der Name des Stils ist bei einer der damals zahlreichen internationalen Ausstellungen entlehnt, der «Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes», die 1925 in Paris stattfand. An dieser wurde, ganz hinten links, der Pavillon de l’Esprit Nouveau aufgebaut und Le Corbusier präsentierte sein Architektur-Statement, explizit anti-déco.

Es geht bei diesem Stil somit um die dekorativen Künste, die sich von den bürgerlich-abendländischen Idealen der Gründerzeit emanzipierten und sich – im Gegensatz zur Art Nouveau, dem Jugendstil – explizit dem technischen Fortschritt und insbesondere der aufkommenden Massenproduktion und der -kommunikation stellen. Dies geschah mit neuen Formen oder auch dem innovativen Einsatz von Materialien, oft aber noch in Verbindung mit traditionellen handwerklichen Methoden. Art déco war keine Revolution, sondern vielmehr ein Weitermachen mit neuem Stil. Dieser ist extrem eklektizistisch und umfasste Elemente des Klassizismus, des Kubismus, des Expressionismus und in seiner späten Phase der Stromlinien-Ästhetik. Seine Merkmale sind geometrische Formen und Abstraktion, lineare, rippenartige Gliederungselemente, gebrochene oder gerundete Ecken sowie der Einsatz von Schrift und Signaletik. Aufgrund seines Massen-Appeal liesse er sich als Vorgänger der Pop-Art bezeichnen.

Auch die Art déco-Architektur speist sich aus zahlreichen Quellen. Sie lässt sich daher schwer auf einen Nenner bringen. An der genannten namensgebenden Ausstellung war neben Le Corbusier auch Konstantin Melnikow mit seinem konstruktivistischen Pavillon für die UdSSR vertreten. Und Auguste Perret baute für sie ein Theater, das es immerhin in Kenneth Framptons epochales Buch «Studies in Tectonic Culture» schaffte. Ansonsten verschmäht die akademische Bauwissenschaft die Art déco-Architektur allerdings weitgehend. Das ist insofern verständlich, als der Stil räumlich-technisch keine nachhaltigen Entwicklungen ausgelöst hat und es ihm auch an «Reinheit» fehlt. Es ist aber auch bedauerlich. Diese Auseinandersetzung sollte nachgeholt werden. Denn Art déco weist auf den Zusammenhang zwischen gestalterischen Gesten und der populären Massenkultur hin und zeigt, dass Architektur über das räumlich-soziale Angebot hinaus auch eine Botschaft und «etwas fürs Gemüt» bieten kann und soll – politisch neutral übrigens: Die Palette der Art-déco-Architektur reicht vom Karl Marx-Hof in Wien bis zum New Yorker Rockefeller Center. Art déco repräsentiert eine Architektur des technischen, kulturellen und städtebaulichen Umbruchs. Diese ist ein Laboratorium der Neuorientierung. Hier zeigen sich zahlreiche Parallelen zur Gegenwart.

Schaffhauserstrasse/Rotbuchstrassse. Bilder: Baugeschichtliches Archiv Zürich
Ersatzneubauten und Verdichtung

Die Stadt Zürich startete in die Zwischenkriegszeit mit dem Ziel, eine veritable Grossstadt zu werden: Von 1915 bis 1918 fand der «Internationale Wettbewerb für einen Bebauungsplan der Stadt Zürich und ihrer Vororte» statt. Die Stadt wurde mit dem (damals teils noch nicht eingemeindeten) Umfeld zum ersten Mal als Einheit betrachtet. Es gab keinen Sieger. Aber zwei 2. Preise wurden vergeben. Von den Projekt-Autoren wurden zwei 1920 von der Stadt angestellt: Hermann Herter prägte fortan als Stadtbaumeister die bauliche Entwicklung und Konrad Hippenmeier wirkte als Chef des Quartierplanbüros.

Die Stadt wuchs entlang der Ausfallachsen und zwischen ihnen in die Fläche. Diese Entwicklung wurde von Art déco-Architektur begleitet. Wichtige Stil-Zeugen finden sich heute an der Schaffhauser-, der Badener-, der Winterthurer- oder der Wehntalerstrasse, bei der Sihlporte, in der Kalkbreite und am Hegibachplatz. Es handelt sich dabei mal um Pionier- mal Ersatzneubauten. Oft ging ihre Erstellung einher mit einer markanten Verdichtung. Eine wichtige Gross-Zürich-Massnahme aus dieser Epoche ist die Neuordnung der Bahnanlagen am linken Seeufer. Hermann Herter plante für die Linie den Reiterbahnhof Wiedikon, vermutlich sein einziges Art déco-Bauwerk.

Detail des Bahnhofs Zürich-Wiedikon, der von Hermann Herter gestaltet wurde. Bild: Manuel Pestalozzi
Die folgenden Fotos geben im Sinne einer kurzen Dokumentation Hinweise auf wichtige Ereignisse und Ausprägungen der Art déco-Architektur in Zürich.

In den innerstädtischen Bereichen führte die Verdichtung zu Bauten von bisher unbekannten Dimensionen. Art déco bot Stilmittel, welche diese grossen Baukörper zu gliedern halfen. Besonders beliebt waren horizontale Rippen, welche Dynamik andeuten und gleichzeitig Solidität vermitteln sollten.

An der Rotwandstrasse. Bild: Manuel Pestalozzi

Als Art déco-Stilmerkmale finden sich in Zürich neben einer Betonung der Horizontalen auch eine Vorliebe für prominent inszenierte Erker und eine prägnante Farbgebung. Die Bauten wurden gestaltet, um aufzufallen. Sie sollten eine aufstrebende, neue Mittelschicht repräsentieren.

Gebäude an der Letzistrasse/Winterthurerstrasse. Bild: Manuel Pestalozzi

Die Beschriftung von Bauten erhielt in ihrer Bedeutung eine neue Dimension. Schrifttyp und der Grafik wurde grosse Wichtigkeit beigemessen – man könnte von einer frühen Variante des «Branding» sprechen.

Gebäudebeschriftung an der Haldenbachstrasse/Sonneggstrasse. Bild: Manuel Pestalozzi

Die neue «Stilsuche» erfasste neben der Stein- auch die Metallbearbeitung. Das Kunsthandwerk musste sich mit neuen Ideen gegen die industrielle Massenproduktion wappnen. Eine neue Gestaltungsaufgabe bildeten in der Periode des Art déco Garagentore.

Art déco-Garagentore an der Spyristrasse. Bild: Manuel Pestalozzi

Auch Hauseingänge boten Gelegenheit zu repräsentativen Dekorationsmassnahmen, welche im Einklang mit dem Zeitgeist standen. Sie machten aus einem Haus eine Adresse, die aus der Anonymität hervorstach.

Schmuckvolle Eingangssituation an der Irchelstrasse. Bild: Manuel Pestalozzi
Auch Farben wurden bei der Ausgestaltung von Gebäuden und deren Eingängen genutzt – hier an der Denzlerstrasse. Bild: Manuel Pestalozzi

Ein ausserordentlich interessanter Zeitzeuge ist die Synagoge der israelitischen Religionsgesellschaft orthodoxen Glaubens, die 1918 einen Wettbewerb ausgeschrieben hatte. Der Architekturkritiker Roman Hollenstein zählt sie «zu den kostbarsten Art déco-Synagogen überhaupt». Den Wettbewerb gewann das Büro Henauer & Witschi, von dem auch Zürichs Alte Börse stammt. Realisiert wurde das Gebäude in den Jahren 1923 und 1924. Der Geist des Art déco-Stils in Zürich wird im Artikel zum Projekt in der Zeitschrift Werk (Band 12, 1925) auf den Punkt gebracht: «So hat sich die glücklich orientalisierende Haltung des Fassaden-Projektes beim ausgeführten Bau völlig verloren zugunsten einer einheimischen, mehr bodenständigen und das heisst eben viel einfacheren Form.» Will heissen: Art déco kann durchaus auf ethnisch-kulturelle Bedürfnisse eingehen, stellt diese aber in einen allgemeinen, örtlichen Kontext. Art déco ist ein versöhnlicher Stil, der Grenzen überwinden möchte. Er wirkt integrativ.

Synagoge an der Freigutstrasse. Bild: Manuel Pestalozzi
Komplexität und Widerspruch

Dieses Wortpaar stammt von Robert Venturi, der 1966 «Complexity and Contradiction in Architecture» publizierte. Der Titel des berühmten Buches passt sehr gut zum Thema dieses Beitrags. Venturi schreibt in seinem einführenden gentle Manifesto: «Ich spreche von einer komplexen und widersprüchlichen Architektur, die auf dem Reichtum und der Zweideutigkeit der modernen Erfahrung fundiert […] Die Erfordernisse an Programm, Struktur, technische Ausrüstung und Ausdruck sind vielseitig und konfliktträchtig, wie es zuvor nicht vorstellbar war. Die wachsenden Ausmasse und Dimensionen in der Stadt- und Regionalplanung schaffen zusätzliche Probleme. Ich begrüsse die Probleme und nutze die Unsicherheiten zu meinem Vorteil. Indem ich den Widerspruch und die Komplexität akzeptiere, strebe ich Vitalität und Gültigkeit an.» Eine vergleichbare Situation war der Anlass für das Entstehen von Art déco-Architektur in Zürich. Sie dokumentiert die Herausforderungen, mit denen Architektur und Bauindustrie damals konfrontiert waren.

Bei vielen Art déco-Bauten ist die Konfrontation zwischen dem Neuen und dem Bewährten, zwischen tradierten Werten und einer neuen, noch wenig bekannten globalen Welt erkennbar. Vor allem im Dachbereich: Nach wie vor hielt man hier an bewährten Konstruktionen wie dem Walm- oder dem Mansardendach fest, zerschnitt diese aber immer mehr für die fortwährend zahlreicherer vorkommenden und immer breiter geschnittenen Aufbauten. Durchbrüche in den Traufen mussten mit Einsatz von viel Blech wettersicher gemacht werden. Die wachsende Komplexität von Programmen, grössere Dimensionen und die fortschreitende Industrialisierung der Baubranche führten die Art déco-Architektur in die Sackgasse. Doch sie bliebt zurück als Zeitzeuge und lässt stets aktuelle Überlegungen zur Bedeutung des Dekorativen in der Architektur zu.

Nachtarchitektur als Überlagerung an der Badenerstrasse/Langstrasse. Bild: Baugeschichtliches Archiv Zürich

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