Begehrte Engadiner Seen

Inge Beckel
5. Dezember 2019
Panorama mit Silvaplaner- und Silsersee, um 1930 (Foto: Jean Gaberell, ETH Zürich, Bildarchiv)

Das Bild der silbern glitzernden Oberengadiner Seen – Stazersee, St. Moritzersee, die Seen von Champfèr sowie Silvaplana und Silsersee – ist uns allen als eine landschaftliche Perle im Gedächtnis, und sei es nur aufgrund von Fotografien etwa eines Pioniers wie Albert Steiner. Doch stellt diese von den Seen durchzogene Landschaft eine Ressource dar, die genutzt werden will. Die Frage ist nur, von wem? Hier gibt es sehr unterschiedliche Interessen, die sich teils diametral gegenüberstehen. Die Erhaltung dieser Naturschönheit als soziokulturelle Ressource musste mehrfach hart erkämpft werden. Und sie wird auch in Zukunft Gegenstand von Diskussionen sein.

Widersacher Wasserkraft

Kurz nach 1900 begann ein Kampf um die Wasserrechte des Silsersees, der rund 40 Jahre andauerte. Das Seebecken sollte zu einem Speicher werden, was auf der Seite Malojas einen Damm von über zwei Metern Höhe bedeutet hätte, wobei das Wasser im Winter um bis zu fünf Metern hätte gesenkt werden sollen. Unzählige Expertisen und Broschüren für und wider folgten in den kommenden Jahren und Jahrzehnten, bis im Jahre 1934 der Kleine Rat des Kantons Graubünden den damals Antrag stellenden Wasserwerk-Betreibern die Konzession verweigerte.

Wie zu erwarten war, tauchten weitere Wasserkraft-Projekte auf. Studien und Gutachten von Befürworter*innen wie Gegner*innen wechselten sich ab – wobei die Gemeinden Sils/Segl und Stampa im Bergell zu letzteren gehörten, war in jenen kargen Jahren die Aussicht, mit Wasserkraft Geld zu verdienen, für sie eine Frage des Überlebens. Letztlich einigten sich die Wasserkraft-Gegner mit den Gemeinden darauf, dass ihnen, wenn sie verzichteten, eine Pauschalsumme zur Entschädigung entrichtet werden sollte: Sils/Segl sollte 100'000, Stampa 200'000 Franken erhalten. Die Mittel sollten bis zum 31. Dezember 1947 aufgetrieben werden. Woher aber sollte das Geld kommen?

Robert Ganzoni, der erste Präsident der 1944 gegründeten Pro Lej da Segl, stimmte der zündenden Idee des damaligen Geschäftsführers des Schweizerischen Heimatschutzes, Ernst Laur, zu. Beim Bundesrat erwirkte Laur die Freigabe von 20 Tonnen damals noch rationierter Schokolade. Es war dies die Geburtsstunde des Schoggi-Talers, der noch heute jährlich von Schweizer Heimatschutz und Pro Natura verkauft wird. Die damals erstmalig schweizweit durchgeführte Aktion brachte mehr als die erforderliche Summe ein – abgesetzt wurden 823'420 Taler –, Sils/Segl und Stampa konnten entschädigt werden, das überschüssige Geld blieb in den Kassen von Heimat- und Naturschutz. Und die Oberengadiner Seenlandschaft für die nächsten 99 Jahre von der wirtschaftlichen Nutzung der Wasserkraft verschont.

«Das Engadin der Zukunft: ‹Und hier, meine Damen und Herren, die grosse Attraktion der Engadiner Fremdenindustrie: der berühmte Durchblick auf unseren geliebten Silsersee›» (Zeichnung: Kulturarchiv Oberengadin)
Widersacher Zersiedelung

Nach dem Zweiten Weltkrieg, in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs, folgte schon die nächste Bedrohung der Seenlandschaft. Schweizweit wurde Bauland eingezont, so auch im Engadin, besonders in Sils/Segl sowie in Surlej. Im Fall von Surlej sprach man in den 1960er-Jahren von einer potenziellen Stadt mit 24'000 Einwohner*innen. Mittlerweile hatten sich aber auch die Landschaftsschützer*innen organisiert. Einer der Wortführer gegen die spekulative Überbauung war der junge Journalist Franz Weber. Er und einer der Mitstreiter, Matteo Gaudenzi, verfolgten das Ziel einer möglichst grossflächigen Unterschutzstellung von Surlej. Ihre Strategie war, möglichst viel (Bau-) Land zu kaufen, Servitute der Nichtpassierbarkeit eintragen zu lassen und es damit der Spekulation zu entziehen.

Wieder stellte sich die Frage: Woher das Geld nehmen? Eine Zürcher Neurologin spendete 60'000 Franken. Damit wurden erste 14'000 Quadratmeter strategisch wichtigen Baulands gekauft und Bauwilligen der Zugang zu den Grundstücken abgeschnitten. Das Ziel war aber, 150'000 Quadratmeter Land anzukaufen und mit einem Bauverbot im Grundbuch eintragen zu lassen. Ein Benefiz-Gala-Abend im Hotel Dolder in Zürich wurde zum Erfolg: 450'000 Franken konnten gesammelt und weiteres Land damit erworben werden.

Sils/Segl hatte einen Zonenplan erlassen, der die ganze Ebene zum Bauland für bis zu 20'000 Einwohner*innen erklärte, inklusive des Fextals. Im Gegensatz zu Surlej setzten hier die Verfechter kleinerer Bauzonen auf Planung. Es wurden Ausnützungsziffern reduziert. Und es wurden Quartierpläne erstellt. Dies mit dem Ziel der baulichen Konzentration, um rundherum möglichst viel Land freizuhalten. Die neuen Quartiere sollten einen Bezug zur traditionellen lokalen Architektur haben. Nachdem sich Architekt*innen und Grundeigentümer*innen zunächst sträubten, konnten sie sich bald mit der vorgeschriebenen Bauweise anfreunden; besonders, nachdem der Immobilienmarkt darauf positiv reagiert hatte. Der hier verantwortliche, aus einem Auswahlverfahren hervorgegangene Planer war Steiger Partner (heute: Planpartner) mit Marcel Hofmann.

Aus der Analyse der Orte Grevasalvas und Samedan resultierte ein volumetrisch konzentrierter Entwurf für das Gebiet Seglias in Sils/Segl. Der Entwurf stammt aus 1972 von Marcel Hofmann, Büro Steiger Partner in Celerina. Der «konzentrierte Zonenplan» für das Gebiet Seglias trat 1977 in Kraft. (Fotos: Planpartner (links) und Christof Kübler (rechts))

Eine generelle Unterschutzstellung der Oberengadiner Seenlandschaft hatte im Mai 1971 Otto Largiadèr, Kurdirektor von Pontresina und Bündner Grossrat, gefordert, da, wie er meinte, weder die Verträge noch die verbesserten Baugesetzgebungen noch die Kaufaktion in Surlej das zusammenhängende Gebiet der Seenlandschaft ausreichend schützen könnten. Im Juni 1972 wurde eine entsprechende Verordnung vom Grossen Rat Graubündens ohne Gegenstimme gutgeheissen. Sie verhinderte die Überbauung der übrigen Gebiete von St. Moritz, Silvaplana, Sils/Segl, dem Fextal und dem Boden der Gemeinde Stampa. 1983 schliesslich wurde die Landschaft ins Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung aufgenommen.

Anerkennung als «Lebewesen»

2019 feiert die Vereinigung Pro Lej da Segl ihr 75-Jahr-Jubiläum. Anders gesagt: Es bleiben 24 Jahre, um sich über die Zukunft der Oberengadiner Seenlandschaft nach Auslaufen der Verträge Gedanken zu machen. Anlässlich der Jubiläumstagung (mit Vorbesichtigung der Ausstellung) am 23. November 2019 sprach sich die Mehrheit der anwesenden Vertreter*innen von Verbänden wie Gemeinden dafür aus, die Verträge – unter Anpassungen – zu verlängern. Letzten Endes ist auch der Tourismus eine Ressource.

Abschliessend brachte Raimund Rodewald von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz einen neuen Aspekt in die Diskussion ein: Er umschrieb Landschaft als soziokulturelle Ressource – ihr Regenerationswert für Wohlbefinden und Gesundheit können nicht hoch genug eingestuft werden – und erzählte folgende Geschichte der Maori aus Neuseeland: Diese haben den ihnen heiligen Fluss Whanganui auf höchster staatlicher Ebene als «Lebewesen» einstufen lassen. Womit er die Rechte eines Lebewesens, Menschenrecht, geniesst.

Wir können nun darüber nachdenken, ob die Oberengadiner Seenlandschaft – mit anderen Naturschönheiten – dies auch verdient hätte?

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