Das Ende der grossen Erzählung

Inge Beckel
17. März 2016
Plakat der Parity Talks an der ETH Hönggerberg vom 8.3.2016, Ausschnitt. Bild: Original Photo Courtesy Herzog & de Meuron/Design Völlm + Walthert.

Der 8. März ist internationaler Frauentag. Auch einen Männertag gibts, der am 19. November gefeiert wird und 1999 in Trinidad und Tobago eingeführt wurde. Der Frauentag entstand als Initiative sozialistischer Organisationen vor dem Hintergrund des Kampfs um Gleichberechtigung und das Frauen-Wahlrecht um die Zeit des Ersten Weltkriegs.
 
Vorträge am Morgen
Vorige Woche also wurde am Departement Architektur auf dem Hönggerberg in Zürich ein international besetztes Kolloquium abgehalten. Am Vormittag sprach zuerst die Philosophin Hélène Frichot, die an der Kungliga Tekniska Högskolan, der KTH in Stockholm, «Critical Studies in Architecture» unterrichtet und von dort aus, wie sie sagt, mit anderen das Anliegen einer möglichst ausgeglichenen Geschlechtervertretung in Skandinaviens Baukultur und darüberhinaus vertritt. Dann die Architektin Mary Pepchinski, Professorin in Dresden, die etwa – mehrheitlich mit Studentinnen – Biografien von international tätigen Architektinnen aus verschiedenen Epochen zusammengetragen und untersucht hat, die sie auszugsweise vorstellte. Interessant ist hierbei etwa, dass viele der Frauen Architekten oder Ingenieure als Väter hatten und nur mit Schwestern aufwuchsen. Frappant ist, dass viele Bauten dieser Architektinnen härter beurteilt und harscher kritisiert wurden – im Vergleich zu solchen von männlichen Kollegen.

Die Planerin Barbara Zibell war in ihren frühen Lehrjahren bei Benedikt Huber am Departement Architektur der ETH Zürich tätig und hatte dort bereits in den 1990er-Jahren, zusammen mit Lydia Buchmüller, eine Tagung zu weiblichen und männlichen Aspekten in der Stadtplanung organisiert, woraus eine gleichnamige Publikation hervorgegangen ist. Heute ist Zibell in Hannover tätig. Sie erinnerte an Entwicklungslinien von Architektinnen und Planerinnen vor allem aus dem deutschsprachigen Raum, besonders an die im Stadtraum arbeitenden Pionierinnen der zweiten Frauenbewegung der 1970er-Jahre. Abgerundet wurde der Vormittag von der in Zürich arbeitenden Architektin Kornelia Gysel. Ihr Vortrag stand unter dem Motto «Tausendundein Paradies». Diversität ist in diesem Sinne auch inhaltlich zu verstehen. Wichtig sind ihr Vielfalt und eine Bandbreite an Möglichkeiten, wie Häuser und Stadträume gebaut werden können. Deren unterschiedliche Atmosphären, variierende Massstäbe sowie formal und konstruktiv-technisch differenzierte Ausgestaltungen – sie alle tragen dazu bei, Lebensräume nachhaltig zu sichern.

Studentische Warmwasserversorgung. Southwestern University for Finance & Economics, Chengdu, China 2008. Bild: Konrad Gysel.

Bottom up-Anlass
Wie im eMagazin 39/15 bereits im vergangenen Herbst berichtet, stehen derzeit und in naher Zukunft am Departement Architektur der ETH Zürich zahlreiche Wechsel und Neuwahlen von Professuren an. Dabei gilt es, den Frauenanteil zu erhöhen. Im Grundsatz ist dies unbestritten. Auch Philipp Ursprung, Professor am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur gta und künftiger Vorsteher, meinte, «diversity» sei ein grosses Thema und heute letztlich auch als Standortfaktor relevant. Anders ausgedrückt heisst dies, wird der Anteil Frauen auf Professorenebene innert der nächsten Jahre nicht merklich erhöht, wirkt sich dies negativ auf die regelmässig durch externe Experten durchgeführten, internationalen Evaluationen der Hochschule aus.

Nach den vormittaglichen Vorträgen gehörte der Nachmittag Podien und Rundtischgesprächen. Vor dem abschliessenden Podium gab es drei Parallelgespräche mit den Schwerpunkten «Parity in Teaching & Learning, Parity in Research and Parity in Practice». Hier nahmen Vertreterinnen und Vertreter der Studierenden, des Mittelbaus und der Professorenschaft sowie Externe teil: Stets mit dem Fokus, Wege zu diskutieren, den Frauenanteil in einflussreichen Positionen in der Disziplin zu heben. Wichtig ist, dass sich die für den Anlass verantwortliche «Parity Group» grundsätzlich «bottom up» formiert hat. Die Initiative geht auf Studierende und Leute aus dem Mittelbau zurück. Sie sagen: Es muss sich etwas ändern.

Den Appell unter anderen aufgenommen hat Annette Spiro, aktuell Departementsvorsteherin. In ihren Begrüssungsworten verwies sie auf Virginia Woolfs Klassiker (1929), «A Room of One's Own». Wörtlich genommen braucht es Raum zum Denken und Arbeiten. Etwas, das heute lange nicht für alle Frauen selbstverständlich ist – auch nicht für alle Männer. Gleichzeitig appellierte sie an die Frauen, die eigenen Ambitionen ernst zu nehmen. Also dranzubleiben, auch wenn die Wege steiniger werden. Oder wie ein noch junger «Klassiker» heisst: «Lean In. Women, Work, and the Will to Lead» (2013) von Sheryl Sandberg.

Die Bremer Stadtmusikanten. Gebrüder Grimm um 1819. Denkmal: Gerhard Marcks, 1951. Bild: bremen-tourismus.de (© Studio Banck / BTZ Bremer Touristik-Zentrale).

Die Frage nach den «Süppchen»
Nun ist klar, und dies steht ausser Frage, dass Frauen in den vergangenen Jahrzehnten viel erreicht haben. Dass 50 Prozent der Studierenden an vielen Hochschulen Europas, Nordamerikas und in weiteren Teilen der Welt Frauen sind, ist grossartig. Aber keine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig wurden an vielen Fronten – um diese militärischen Begriffe zu bemühen – Erfolge erzielt, Rechte erkämpft, es wurde Terrain gewonnen. Das ist eine Riesenleistung. Doch am Ziel sind wir nicht. Denken wir nur exemplarisch an die Lohnungleichheit für gleiche Arbeit. Oder eben an die viel zu wenigen Professorinnen, was heute jedenfalls für sämtliche technischen Disziplinen gilt. Trotz Besserungen muss die Forderung nach mehr Frauen in hohen, verantwortungsvollen und einflussreichen Positionen aufrecht erhalten bleiben.

Die Frage, die sich dabei immer wieder und immer wieder aufs Neue stellt, ist jene nach der eigenen Positionierung. Also: Frauen wollen gleiche Rechte, den gleichen Lohn für gleiche Arbeit, und die gleichen Möglichkeiten im Leben und bei der Arbeit. Was auch gleiche Pflichten bedeutet. Aber: Wollen wir uns den Männern in allem angleichen? Wollen Frauen immer und durchwegs genauso bauen wie ihre männlichen Kollegen? Legen sie dieselben Schwerpunkte? Sind ihre Methoden und Arbeitsweisen, ihr Umgang mit den Herausforderungen etwa der Nachhaltigkeit, den beteiligten Menschen und ihr Umgang mit dem Bestand stets dieselben wie jene der Männer? Wohl kaum. Denn wenn man's genau nimmt, wollen ja auch nicht alle Männer dasselbe. Auch sie sind nicht alle gleich.

Das Problem ist, dass das Normale, das Übliche, ja das «Moderne» als das generell Richtige und Erstrebenswerte gilt. Das Problem ist, dass wir das «Andere» gegenüber dem «Normalen» als minderwertig betrachten. Anstatt das Andere als gleichwertige Variation, als andere Möglichkeit gegenüber dem «Normalen» wertzuschätzen, werden Andersartigkeit und Differenz allzu oft als weniger wichtig, eben als minderwertig wahrgenommen. Nein, es gilt nicht, gleichzeitig je getrennte Süppchen zu kochen. Aber auch nicht immer dasselbe. Auch Süppchen schmecken besser, wenn wir sie variieren. Das Leben kann sich im Gebauten wohl dann am besten widerspiegeln, wenn möglichst viele Menschen – Männer und Frauen – an dessen Gestaltung teilhaben. Und ihre Lebenserfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche einbringen. Wichtig ist, dass wir ihre Herangehensweisen als sich ergänzend würdigen.

Gleichwertigkeit in der Differenz
Dazu passt die kleine Geschichte, die die Architekturhistorikerin Mary McLeod in ihrem Abschlussvortrag erzählte, gehalten am Abend jenes 8. März in Zürich. Nach Besuch der Werkbundsiedlung auf dem Weissenhof in Stuttgart von 1927 hatte die Publizistin Erna Meyer dem künstlerischen Leiter Ludwig Mies van der Rohe geschrieben, sie sei enttäuscht von den Einrichtungen vieler Häuser. Am meisten von Le Corbusier, wo besonders die Küchen unpraktisch seien. Ob diese Zeilen nun bis zum Kritisierten durchgedrungen sein mögen oder nicht, sei dahingestellt. Fakt ist, dass Le Corbusier wenig später die Architektin und Designerin Charlotte Perriand eingestellt hat. Ihre Arbeit war anders – und gleichwertig.

Was wir brauchen, ist Gleichwertigkeit in der Differenz. Das heisst aber, dass wir uns von der einen, der grossen Erzählung verabschieden müssen. Und uns hinbewegen auf viele, ja unzählige Geschichten … Oder, analog der symbolischen Umschreibung des Kürzels des australischen Senders SBS – hin zu «six billion stories».

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