Das Nützliche mit dem Schönen kombinieren

Ulf Meyer
30. März 2017
Busterminal-Supermarkt-Hybrid in Churwalden. Bild: Ritter Schumacher

Churwalden liegt entlang der Passstrasse von Chur auf die Lenzerheide und lebt vom Ski- und Wander-Tourismus. Der Durchgangsverkehr spielt für Churwalden eine wichtige Rolle, und ein neues Busterminal-Supermarkt-Hybrid schmückt wegen seiner prominenten Lage wie eine Visitenkarte das Bündner Dorf. Ursprünglich wollte die Gemeinde nur ein grosses Dach als Bushaltestelle bauen lassen, aber in Eigeninitiative schlugen die Architekten Ritter Schumacher aus Chur eine Erweiterung des Raumprogramms um Ladenflächen vor und machten sich auf die Suche nach Investoren und Mieter – mit Erfolg! Der lange, schmale Bau mit abgerundeten Ecken und 700 Quadratmetern Fläche bildet nun das Zentrum von Churwalden und repräsentiert einen neuen Laden-Typus für die Schweiz. Unter dem allseitig auskragenden Dach können entlang der Längsseiten je drei Postautos halten. Der Eingang zur Migros-Filiale befindet sich an einer Schmalseite. Die homogene Fassade aus Bündner Holz wurde in Zusammenarbeit mit einem örtlichen Holzbauunternehmen entwickelt, inklusive aller Konstruktionsdetails.
 

Unter dem allseitig auskragenden Dach können entlang der Längsseiten je drei Postautos halten. Bild: Ritter Schumacher
Bild: Ritter Schumacher

Das 4,5 Meter hohe Flachdach der «Migros-Haltestelle» ruht auf einem Spalier aus vertikalen Holzlamellen, die zur Dachkante hin geschwungen auskragen – wie Skier. Die Höhe des Daches war von der Dimension der Doppelstock-Busse der Post bestimmt. Die hölzernen Rippen sind in einem Rhythmus von 25 cm angeordnet, Fenster verbergen sich hinter Lamellen. Mit einer indirekten Beleuchtung hinter der Dachstirne wird die Fassade in der Dämmerung illuminiert. Beim Bushof in Schaan/Liechtenstein hatten die Architekten bereits Erfahrungen mit dem Bautypus sammeln können. Deshalb sitzt in Churwalden jedes Detail. Das umlaufend drei Meter auskragende Dachtragwerk markiert das Zentrum von Churwalden mit seinem abstrakten «Flimmern» der Holzlamellen. Das Holz stammt aus den umliegenden Wäldern, wie von den Architekten in der Ausschreibung gefordert.

   
Das «grosse Wartehäusschen» hat in Churwalden eine städtebauliche Aufbruchsstimmung ausgelöst. Ritter Schumacher Architekten hatten zuvor bereits die nahe Talstation für die Gondelbahn «Portal Churwalden» und das Gemeinschaftshaus eines Campingplatzes gebaut. Vis-à-vis vom Busterminal wird ein weiterer markanter Bau geplant. Aber den Architekten geht es nicht nur um eine Ortsentwicklung in Churwalden, sie wollen auch einen neuen Typus der Einzelhandelsarchitektur für Schweizer Gemeinden entwickeln: Mit dem Bauherren haben sie sich deshalb auch gestalterisch koordiniert. Auf farbige Wände im Innern des Supermarkts wurde beispielsweise verzichtet. Die Ergänzung von Bauten des öffentlichen Nahverkehrs um Nahversorger könnte Schule machen und die Migros als Bauherr einer zeitgenössischen «Corporate Architecture» in Position bringen.

Nahverkehr und Nahversorger unter einem Dach. Bild: Ritter Schumacher

Als 1926 an der Ausstellungsstrasse 4 in Zürich der erste Migros-Laden eröffnet wurde, konnte Firmengründer Gottlieb Duttweiler noch nicht ahnen, wie stark seine Läden einst die Schweizer Orte prägen würden. Neunzig Jahre später scheint die Entwicklung wieder am Ausgangspunkt angelangt zu sein. Denn nach den ersten Bedienungsläden (damals noch asketisch gestaltet, um Sparsamkeit zu signalisieren), hatte sich die «Architektur der Migros» mit der Einführung der Selbstbedienungsläden (S-Laden) 1948, die erstmals normiert gestaltet waren, gewandelt. Ihre klare visuelle Identität sollte einst Akzeptanz für die neue Verkaufsform schaffen. Beim späteren Typus «Migros Markt (MM)» wurden Non-Food-Artikel in das Sortiment aufgenommen und die Läden entsprechend gross. Als «Markt im Freien» bekam jede Abteilung ihr eigenes Gesicht, mit Wolkenhimmel, lebenden Pflanzen und gestreiften Storen. Die Läden glichen bald «begehbaren Warenlagern». In den 1960er-Jahren entstand der Ladentypus «Kiste» als einstöckiges Gebäude oder Sockel in einem grösseren Komplex. Die föderalistische Unternehmensstruktur der Migros, die Autonomie der Genossenschaften und die Tatsache, dass die Migros selten selber baute, standen einer Migros-Einheitsarchitektur im Weg. Als nach amerikanischem Vorbild die ersten Shopping-Center auf der grünen Wiese in der Schweiz entstanden, wurden ab 1970 sukzessive 38 Exemplare des «Multi Migros Markt (MMM)» gebaut. Diese Grossläden boten «alles unter einem Dach». Mit dem«M-Parc»-Konzept, bei dem sich verschiedenen Fachmärkte unter einem Dach befinden und das erstmals 1996 in Regensdorf realisiert wurde, fand der Wettlauf um die Grösse zunächst seinen Höhepunkt. Mit dem Neubau in Churwalden jedoch beweisen Ritter Schumacher als Architekten und die Migros als Bauherrin in einer Zeit von Le-Shop et al., dass eine überzeugende Architektur den Weg der Einzelhandelsimmobilien zurück in das Herz einer Gemeinde bereiten kann.

Bild: Ritter Schumacher

Projekt: Busterminal Churwalden, GR | Architektur: Ritter Schumacher, Chur | Bauherr: Bellavita Lai AG | Fertigstellung: 2016
 

Grundriss des Busterminals in Churwalden. Plan: Ritter Schumacher
Querschnitt. Plan: Ritter Schumacher

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