Das Selbstbild eines Landes bauen

Manuel Pestalozzi
13. Februar 2020
Dieses Foto von der «Expo 67» dokumentiert die Zeitlosigkeit des deutschen Pavillons. (Foto © saai, Werkarchiv Frei Otto)
Leicht, luftig, doch ernsthaft

Erzählt man von diesem Pavillon, dann muss man von «alten weissen Männern» erzählen, Mitgliedern des Establishments. Also von einer Gruppe von Menschen, die in unseren Tagen des akribischen Freispielens von Wesensmerkmalen nicht eben hohes Ansehen geniesst. Nach heutiger Logik hätte man von Rolf Gutbrod (1910–1999) und Frei Otto (1925–2015) damals nur Gefälligkeit und Beliebigkeit erwarten dürfen. Wie kam es, dass diese Architekten gemeinsam etwas Neues, nie Dagewesenes schaffen konnten? Ein luftiges und leichtes Gebilde, das ein ganzes Land widerspiegelte? Das sich zwar unbeschwert gab, aber nicht als frivoler Gag gelten wollte? Im Buch mit dem Titel «Der deutsche Pavillon der Expo 67 in Montreal – Ein Schlüsselwerk deutscher Nachkriegsarchitektur» liefert der Architekturhistoriker Joachim Kleinmanns die Grundlage zur Beantwortung dieser Fragen. Er tut dies, indem er den Entstehungsprozess, die Realisierung und das «Erbe» des Pavillons nach der Schau anhand aufwendiger Archivrecherchen dokumentiert.

Architekt Rolf Gutbrod präsentiert das Modell des Pavillons im Sommer 1965 vor dem kanadischen Ausstellungskomitee. (Foto © Archiv Karin Gutbrod)
Pragmatische Entscheidungswege

Der erste Teil des reich mit Fotos und historischem Planmaterial versehenen Buches widmet sich den wesentlichen Entscheidungen, die zur Realisierung des Pavillons führten. Er würdigt auch die zentrale Rolle, die Architekt Rolf Gutbrod dabei spielte. Heute etwas weniger bekannt als der Leichtbauexperte und Pritzker-Preisträger Frei Otto, der wenige Jahre nach der «Expo 67» mit Günter Behnisch (1922–2010) die an den Pavillon erinnernden Bauten auf dem Münchner Olympiagelände realisierte, hatte Rolf Gutbrod wesentlichen Anteil an der Gesamtidee. Ein spürbares Anliegen des Autors ist es, diesen Beitrag zu dem aussergewöhnlichen Werk und der deutschen Nachkriegsarchitektur gebührend zu würdigen. So enthält die Einführung des Buches auch einen kleinen Überblick über das beeindruckende Gesamtwerk Gutbrods. Explizit hat es sich Kleinmanns zur Aufgabe gemacht, «Gutbrods Anteil anhand der Quellen stilkritisch bestimmbar zu machen. Denn wie das Zelt in Montreal ohne Frei Otto undenkbar ist, so ist die Form des Zeltes ohne Rolf Gutbrod ebensowenig vorstellbar.»

Der politische Weg zum Pavillonprojekt wird als Mischung von vorgeschriebenen rechtsstaatlichen Prozeduren und Networking beschrieben. Rolf Gutbrod wurde für einen beschränkten Wettbewerb angefragt, weil er sich bei früheren Aufgaben für die Bundesrepublik bewährt hatte. Auf Druck des Bundes Deutscher Architekten (BDA) musste dann aber ein öffentlicher Stufenwettbewerb ausgeschrieben werden. Dies war auch deshalb begrüssenswert, weil Sinn und Inhalt des Pavillons durch die Auftraggeberseite, also den Staat, in klare Worte gefasst werden musste. Dies übertrug man dem Kasseler Künstler und Kurator Arnold Bode (1900–1977). Er stellte die erwartete bauliche Ausformulierung der Aufgabe «Repräsentation und Information» in eine Reihe mit dem Barcelona-Pavillon von Ludwig Mies van der Rohe (1929) und dem Pavillon von Egon Eiermann (1904–1970) und Sep Ruf (1908–1982) für die «Expo 58» in Brüssel. «In Montreal sind Bauten von auffallender Extravaganz zu erwarten, aber es ist fraglich, ob sie jene gelassene Repräsentation des Geistes darstellen werden, die den Bau von Mies aus allem heraushob. Ohne eine solche aber … ist die Repräsentanz eines Landes zum grossen Teil verspielt», schrieb Bode. In der zweiten Wettbewerbsstufe erhielt der Entwurf von Gutbrod und Otto den ersten Preis. In ihm sah man eine «lebendige, harmonische … Aufgliederung der Ausstellungsflächen», auch die gute Transportierbarkeit der Struktur von Deutschland nach Kanada wurde hervorgehoben. Künstlerischer Formwille vereinte sich mit pragmatischen Überlegungen.

Beim Errichten des Versuchsbaus wird das Seilnetz gespannt. (Foto © saai, Werkarchiv Frei Otto)
Keine Revolte, Experiment

Neues kann in konsequenter Ablehnung des Bestehenden und von Konventionen geschaffen werden. Zudem kann die Neugierde für die Möglichkeiten, die sich durch neue Methoden und Materialien bieten, einen schöpferischen Entwicklungsschub auslösen. Der Antrieb zum Pavillon für die «Expo 67» ist sicher in die zweite Kategorie einzuordnen. Das passt zum gesellschaftlichen Hintergrund: In den 1960er-Jahren schien ein ganzes Land am selben Strang und in die selbe Richtung zu ziehen. Auch Erfinder*innen passten sich als Teil des Ganzen in ein grosses, gut geschmiertes Räderwerk ein. Sie sahen sich als Exponent*innen einer Leistungsgesellschaft.

Gutbrod und Otto kannten sich bereits und hatten auch schon miteinander gearbeitet, ein dritter Kollege im selben Netzwerk regte die Zusammenarbeit am Pavillonprojekt an. Das gemeinsame Werk mit den antiklastisch gekrümmten Membranflächen und den Einbauten sowie Terrassen darunter wurde als «Aufhebung der konstruktiven Einheit von Dach und Wand» bezeichnet. Die Autoren machten deutlich, dass ihr ephemeres Werk «kein normales Gebäude» sein sollte, sie suchten «eine Lösung, die Improvisation bleibt und nicht Bauwerk wird». Kleinmanns hat herausgefunden, dass die Ideen eines Zeltes, zu Terrassen und einer Kuppel aus Holzlatten von Otto stammen. Aber deren Ausgestaltung trüge dennoch unzweifelhaft Gutbrods Handschrift und sei sein Anteil, schreibt der Autor. Rolf Gutbrod stehe hinter der Bewegtheit und Lebendigkeit der Zeltlandschaft, welche unter dem Begriff «Swinging Germany» in die Geschichte eingegangen ist. Anekdotische Erzählungen im Buch legen dar, wie sich das Ingenieurwissen Ottos mit dem Formwillen Gutbrods vereinten und sich ihre Kompetenzen ergänzten, bis das ikonische Werk vollbracht war. Beide Autoren hatten keine Starallüren, sie waren für die «Beschenkungen» dankbar, die sie vom jeweils anderen empfingen.

Der deutsche Pavillon bei Nacht (Foto © saai, Werkarchiv Frei Otto)
Neuland

Insgesamt wird der Pavillon als Teamwork präsentiert. Der Autor des Buches machte sich die Mühe, die wichtigen Akteure aufzuzählen und ihre Leistungen einzeln zu würdigen. Neben dem vom Frei Otto geleiteten Institut für Leichtbauweise (IL) der TH Stuttgart waren auch der auf Hängetragwerke spezialisierte Ingenieur Fritz Leonhardt (1909–1999), der Landschaftsarchitekt Heinrich Raderschall (1916–2010) sowie diverse ausführende Firmen mit von der Partie. Sie alle waren an einem Projekt beteiligt, das es so bis anhin noch nie gegeben hatte. Berechnungen mussten durch empirische Versuche an zahlreichen Modellen ergänzt werden. 1966 wurde schliesslich in Stuttgart-Vaihingen ein Teilmodell im Massstab 1:1 errichtet.

Auch der Aufbau des Pavillons in Kanada war ein Abenteuer, das sorgfältig dokumentiert wurde. Das Buch erzählt ebenso ausführlich darüber wie über die Rezeption, welche die Struktur nach der Eröffnung der «Expo 67» in der (Fach-)Presse erfuhr. Nach Ende der Ausstellung blieb der Pavillon noch bis 1976 auf dem Gelände stehen – obwohl sich Gutbrod und Otto für einen Abbruch aussprachen. Er ging in das Eigentum der Stadt Montreal über – die Bundesrepublik sparte sich dadurch die Kosten für die Demontage. 1972 untersuchte ein Team aus Deutschland den Pavillon. Die Erkenntnisse aus den Messungen und Materialproben wurden für die Weiterentwicklung bestimmter Konstruktionen als sehr wertvoll erachtet. Fotos aus der späteren «Lebenszeit» des Pavillons zeigen im Buch dessen Alterungsverhalten. 


Im deutschen Pavillon (Foto © saai, Werkarchiv Frei Otto)
«Fast anonyme» Architektur

Den Pavillon gibt es heute nicht mehr, er war explizit für ein kurzes Leben geplant worden. Es gab einige Nachfolgeprojekte, aber dem «Monumentalleichtbau» war keine glorreiche, weltumfassende und nachhaltige Zukunft beschieden. Was bleibt, ist die «Faszinationsgeschichte», wie sich Professor Georg Vrachliotis in seinem Vorwort ausdrückt, und ein ikonisches Bild, das sich ins Gedächtnis einprägt. Es erinnert an eine Zeit, als der Formwillen mitunter nicht eine Persönlichkeit, sondern eine Idee zum Ausdruck bringen wollte. Vielleicht müsste die Architektur wieder zurück zu mehr Leichtigkeit, mehr Sparsamkeit und «mehr Experiment», auch dann, wenn es um Bauten geht, die im Rampenlicht stehen und den Anspruch haben, ein demokratisches Ideal zu verkörpern. Die Digitalisierung drängt uns diese «Renaissance» doch schon fast auf! Die Geschichte des deutschen Pavillons auf der «Expo 67» zeigt, dass so etwas möglich werden kann, und welche politischen und mentalen Bedingungen erfüllt sein müssen.

Der deutsche Pavillon der Expo  67 in Montreal

Der deutsche Pavillon der Expo  67 in Montreal
Joachim Kleinmanns
mit einem Vorwort von Georg Vrachliotis

210 x 230 mm
216 Seiten
180 Illustrationen
Softcover
ISBN 9783869227511
DOM Publishers
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