Flexibel standardisieren – wie in der Natur

Inge Beckel
5. November 2014


Hugo Alvar Henrik Aalto wurde im Februar 1898 im finnischen Kuortane geboren; gestorben ist er 1976 in Helsinki. Damit deckt sein Leben eine kulturell und gesellschaftspolitisch äusserst bewegte Zeit ab.

Nun wird der Autor jener Bauten, die vorwiegend einer organischen Formensprache verpflichtet sind, aber meist als «naturnaher» Architekt verstanden, dessen Schaffen weder als modisch gesehen wird noch als Ausdruck einer bestimmten kulturgeschichtlichen Epoche. Die Ausstellung in Weil am Rhein, die bis Anfang März kommenden Jahres zu sehen ist, zeigt jedoch, dass der Naturbezug nur die eine Seite von Aaltos reichhaltigem Schaffen repräsentiert. Denn ihn interessierten ebenso technische Neuerungen wie das menschliche Wesen selbst, dem seine Bauten und Inneneinrichtungen letztlich galten und gelten.

Villa Mairea, Noormarkku, Finnland, Alvar Aalto, 1939 © Armin Linke, VG Bild- Kunst, Bonn, 2014

Baumstämme
Sicherlich ist es vor allem der Naturbezug, der Alvar Aaltos Architektur prägt. So wähnt man sich beispielsweise im Treppenhaus der Villa Mairea (1938/39) nahezu in einem Wald, wird das Geländer doch von weit mehr als den statisch notwendigen Holzstützen flankiert.
Entgegen den Glashäusern eines Mies van der Rohe also, wo die Weiten nordamerikanischer Landschaften durch die offen wirkenden Häuser hindurch ziehen, fliesst beim Finnen Aalto die den Bau umgebende bewaldete Landschaft ins Hausinnere hinein. Sind es bei Mies van der Rohe die Leere und der (abstrakte) Raum, ist es bei Aalto die Materialität oder gefühlte Haptik – des Waldes –, die den Ort definieren.

Tuberkulosesanatorium, Paimio, Finnland, Alvar Aalto, 1928–1933 © Alvar Aalto Museum, VG Bild-Kunst, Bonn, 2014

Medienfassade und Standardhäuser
Gleichzeitig war Aalto an den technischen Errungenschaften und Möglichkeiten seiner Zeit interessiert. Dieses Interesse erschöpfte sich nun nicht in den fürs Bauen entwickelten Techniken und den traditionellen wie modernen Materialien. So hätte er die Hauptfassade eines Büroneubaus für die Tageszeitung Turun Sanomat in Turku 1928/29 gerne als Medienfassade realisiert, konkret: als Abbild der jeweiligen tagesaktuellen Ausgabe.

Später beschäftigte ihn wiederholt das standardisierte Bauen, als er etwa 1937 Standardhäuser für die A. Ahlström Fabrik entwickelte oder 1945 für die Forstwirtschaftsabteilung von Tampella Oy oder 1949 für Enso-Gutzeit Oy. Aalto sprach dabei von flexibler Standardisierung, also von der Möglichkeit von Variationen innerhalb des gewählten Typus. Denn in der Natur, so seine Überlegungen, träten Regelwerke – Typen und Standards – häufig in leichten oder gröberen Adaptionen und damit Variationen auf.

Alvar Aalto auf seinem Boot Nemo Propheta in den 1960er Jahren © Schildt Foundation. Bild: Göran Schildt

Mensch und Gemeinschaft
Ziel von Aaltos Arbeit aber war stets der Mensch – als Lebewesen und als Teil einer Gemeischaft. So organisierte er das Rathaus von Säynätsalo (1949–52) als Hofbau mit offener Mitte – als Forum sozusagen. Das Stadtzentrum von Seinäjoki (1958–87) wurde komplett nach seinen Entwürfen, teils jedoch erst nach seinem Tod realisiert.

Auf einer kleinmassstäblicheren Ebene sprechen die Räume sinngemäss mehrere der menschlichen Sinne an, sind also multisensorisch, wie es in der Ausstellung heisst. Die Häuser sind schön zum Ansehen, das verwendete Material fühlt sich haptisch gut an, auch riecht es zuweilen gut. Doch auch an die Akustik wurde gedacht: So hatte Aalto fürs Tuberkulosesanatorium (1928–33) in Paimio ein leicht gekipptes Lavabo entwickelt, das das Geräusch des fliessenden Wasser dämpft. Denn die «Gesundmacher» der klassichen Moderne – Licht, Luft, Sonne und Hygiene – hatte er durch den Begriff der Ruhe ergänzt, die für ihn zum Gesundwerden ebenso notwendig war.

Aino Aalto in Paimio-Stuhl, Fotomontage, 1930er Jahre, © Alvar Aalto Museum, Artek Collection, VG Bild-Kunst, Bonn, 2014

Humane Architektur
Alvar Aalto hatte das Büro mit seiner Frau Aino geführt – bis zu deren frühen Tod 1949. 1952 heiratete er die Architektin Elissa Mäkiniemi. Für sämtliche Entwürfe zeichneten seine Frauen mitverantwortlich. Neben den Planungen und Gebäuden ist das Büro Aalto überdies weltweit für Möbel, die es über die 1935 gegründete Firma Artek vertrieb, bekannt sowie für Alltagsgegenstände wie Glaswaren.

Es sind sinngemäss Gesamtkunstwerke, die die Aaltos mit ihren Teams anvisierten. Ihr Ziel waren umfassend gestaltete, lebenswerte Umgebungen, die die Menschen in ihrem Alltag unterstützen – im funktionalen Gebrauch ebenso wie im Wohlbefinden.

Finnischer Pavillon, Weltausstellung New York, USA, 1939 © Alvar Aalto Museo, Foto: Esto Photographics, Ezra Stoller/Esto Photographics Inc., VG Bild-Kunst, Bonn, 2014

MEHR

- Die Ausstellung Alvar Aalto. Second Nature ist noch bis zum 1. März 2015 in Weil am Rhein zu sehen. Dazu ist die gleichnamige Publikation erschienen, die neben Vorworten, Essays und einem ausführlichen Katalogteil Bildstrecken aktueller Fotografien von Armin Linke von ausgewählten Bauten Aaltos zeigt.

- Die Restauration der Bibliothek in Viipuri erhält den 2014 World Monuments Fund/Knoll Modernism Prize (mehr hier).

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