Im Zentrum steht der Mensch

Inge Beckel
3. Dezember 2014

Der Strukturalismus bildet den wichtigsten Beitrag der Niederlande an die Architektur der Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg, liest man in der Ausstellung Structuralisme (mehr hier). Ab den späten 1950er-Jahren stellte die Bewegung eine Art kulturalistische Alternative zur technizistischen Ausprägung der Moderne der Zeit des (Wieder-) Aufbaus der zweiten Hälfte vorigen Jahrhunderts dar. Nicht hygienistisch, rational und sachlich bauten die dem Strukturalismus nahestehenden Architekten, sondern poetisch, kleinteilig, ja «menschennah», und fühlten sich damit wohl sinngemäss dem Brutalismus verwandt. In der Rotterdamer Ausstellung sind ein grosser Teil des Archivs aus dem Institut sowie Filet- oder Fundstücke aus Herman Hertzbergers Schaffen (mehr hier) zu sehen, auch können Videointerviews mit Letzterem, dem einzigen noch lebenden Vertreter der Bewegung in Holland, gehört werden.

Bürogebäude Centraal Beheer. Bild: ahh.nl

Von Freiheit, Gemeinschaft und Halböffentlichkeit
Die bekanntesten Figuren des niederländischen Strukturalismus heissen Aldo van Eyck (1918–99), Piet Bloem (1934–99) und Herman Hertzberger (*1932). Das wohl – noch immer – bekannteste Werk von van Eyck ist das Weeshuis – zu Deutsch Waisenhaus – in Amsterdam von 1955–60. Dabei bilden meist eingeschossige, rechteckige, nahtlos aneinandergefügte Zellen ein orthogonal ausgerichtetes Geflecht, das mehrere kleine und grössere Innenhöfe enstehen lässt. Sinngemäss entspricht die Architektur der gebauten Struktur, in der sich das Leben der Menschen entfalten können soll. Das Bunte, Unregelmässige, Temporäre, ja Persönliche wird fortwährend, gewissermassen als zweite, ephemere Ebene, darauf appliziert. So wird das Aushandeln von Ordnung auf der einen Seite und Freiheit auf der anderen als eines der Hauptmerkmale strukturalistischen Schaffens genannt – was Paul Andreas in der NZZ jüngst als Möglichkeitsräume umschrieben hat (mehr hier). Der Rahmen – also die Struktur, die Materie – ist formal zurückhaltend ausgebildet und in seinen Dimensionen auf den menschlichen Massstab ausgerichtet.

Herman Hertzbergers Skizzenbücher. Bild: Het Nieuwe Instituut

Sieht man sich eines der Hauptwerke Herman Hertzbergers an, das Bürogebäude Centraal Beheer in Aperdoorn von 1968–72, so fallen die unzähligen Raumecken und kleinen Nischen auf, in denen sich einzelne Personen oder kleine Gruppe zurückziehen können, zum konzentrierten Arbeiten oder für kleine Besprechungen. Durch den zentralen, mehrgeschossigen und offenen Innenhof jedoch ist der Sichtkontakt über die Geschosse hinweg und von den verschiedenen Seiten her stets möglich. Damit wird der Ort sowohl von Nähe also auch von Grosszügigkeit bestimmt. Denn nicht nur das Persönliche sollte im Gebauten genügend Raum finden. Die Architekten des Strukturalismus räumten auch der Gemeinschaft einen hohen Stellenwert ein. – Das bekannteste Werk Piet Bloems schliesslich sind die Baumhäuser nahe dem alten Hafen in Rotterdam von 1978–84: über Eck gestellte Würfel auf Stützen als private Häuser, dicht aneinandergepackt als grössere Siedlung mitten im Stadtkörper (mehr hier).

Herman Hertzbergers Altersheim De Drie Hoven in Amsterdam. Bild: Het Nieuwe Instituut

Kulturalistisch-humanistische Tradition
Im Zentrum strukturalistischen Schaffens steht stets der Mensch – und damit, baulich gesehen, auch der menschliche Massstab. So werden bei Hertzberger beispielsweise Fundamentplatten von Stützen – architektonisch gesprochen: die Säulenfüsse – zu Sitzgelegenheiten. Oder der Zugang zu einer Privatwohnung von einem grösseren Erschliessungsgang ist mit einer kleinen, brüstungshohen Mauer vom eigentlichen Durchgang getrennt, womit ein Ort für einen Schwatz mit der Nachbarin oder schlicht eine Nische für einen Stuhl zum Schauen entsteht. So genannt halböffentliche Zonen sind wichtig. Auch dem Kind gebührte stets viel Aufmerksamkeit, denn was für Kinder gute Architektur darstellt, ist es auch für Erwachsene, so eine Maxime Hertzbergers.

Die Architekten respektive Bauten des Strukturalismus stehen – sicherlich stark verallgemeinernd gesagt – grundsätzlich in einer humanistischen Bautradition. Denkt man etwa konkret an der Innenhof von Centraal Beheer, kann man sich an Frank Lloyd Wrights Larkin Company Administration Building in Buffalo (1902–06; 1950 abgebrochen) erinnert fühlen, als exemplarische Nennung. Das Waisenhaus van Eycks steht bekanntermassen in der Tradition traditioneller Siedlungen des Volks der Dogon in Afrika, wohin der Architekt mit seiner Frau und dem Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin auch gereist war.

Als Schweizer Vertreter der frühen Nachkriegszeit strukturalistischen Schaffens kann zum Beispiel Jakob Zweifel (1921–2010) genannt werden, wobei hier besonders sein Gebäude für die EPF in Lausanne oder auch der Weg der Schweiz für die Expo64 an den Ufern des Genfersees angeführt werden können. Denkt man demgegenüber beispielsweise an die Orte des möglichen Rückzugs, aber auch der Gemeinschaft in Gion A. Caminadas Bauten, so kann er als ein zeitgenössischer Vertreter dieser Haltung architektonischen Schaffens gelten. International und stärker auf grossmassstäblicher, städtebaulicher Ebene steht sicherlich auch das Denken und Schaffen Jan Gehls in dieser Tradition.


MEHR

– Vgl. zum Thema etwa auch: Gedanken zum Strukturalismus der Nachkriegsarchitektur, in: tec21, 8/2002 (hier).

Oder jüngst in der Reihe der Hintergrund-Artikel von Swiss-architects etwa
– «Städte für Menschen» (hier) oder
– «Lebendige Dichte» (hier).

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