Landschaftsbeobachtungen

Inge Beckel
19. Mai 2016
Alles auf engstem Raum: Zugang, Garage und Gartenterrasse. Matera, 2016. Bild: ib.
Eine kultivierte Landschaft mit gepflegten Olivenbäumen (oben). Vernachlässigte Landschaft um San Giovanni Rotonda: Olivenhaine gehen zurück, es folgen u.a. Riesen-Bärenklau. Bild: ib.

Gepflegte und vernachlässigte Landschaften
Reist man – ausserhalb der grossen Zentren mitsamt ihren Agglomerationsräumen – durch Italien, sieht man über Hunderte von Kilometern ausgedehnte Landstriche an sich vorbeiziehen. Sie sind nur dünn besiedelt, die Böden werden landwirtschaftlich genutzt. Die Felder sind gepflegt. Im südlichen Teil des Stiefels beispielsweise werden im Frühjahr Abertausende von Olivenbäumen geschnitten. Und die Böden darunter von Unkraut befreit. Regelmässig sieht man den Rauch von kleinen Feuern im blauen oder leicht bedeckten Himmel. In den Feuern lodern die geschnittenen Äste der gelichteten Bäume. Die Felder oder Haine sind von Mauern gefasst.

Zwischen den Olivenhainen gibt es natürlich vereinzelt weniger oder zuweilen gar nicht bewirtschaftete Parzellen. Doch gibt es Regionen, in denen sich das Verhältnis zwischen den gepflegten und den verlassenen Böden plötzlich umkehrt. Die bewirtschafteten und gepflegten Äcker geraten in die Minderzahl, während die Mehrheit des Landwirtschaftslandes verlassen daliegt. Die Felder und Haine wachsen langsam zu: Das Gehölz der Olivenbäume ist dicht, ohne herausgeschnittene Äste. Die Böden sind mit Gras und anderem Unkraut überwuchert und es tauchen neue, oft ortsfremde Pflanzen auf. Wie die bei uns als Neophyten geltenden Riesen-Bärenklau.

Dies geschieht beispielsweise, wenn man auf den Ort San Giovanni Rotondo im nördlichen Apulien zufährt. Denn für Architekturinteressierte gibt es dort etwas zu sehen, nämlich die von Renzo Piano mit seinem Building Workshop erbaute Kirche San Pio, die im Jahre 2004 eingeweiht wurde. Mit ihren 6000 Quadratmetern Fläche ist sie, nach dem Mailänder Dom, die zweitgrösste Kirche Italiens und kann 6500 Gläubige aufnehmen. Es ist eine muschelförmige Struktur, die sich von der ebenerdigen, leicht geneigten Fläche des Hauptraums spiralförmig in den Boden gräbt, in eine reich verzierte Krypta. Der Kirchenraum wird von grossen, ineinander greifenden, Licht einlassenden Bögen überdacht.

Was aber haben Pianos Werk mit den Neophyten ausserhalb der Stadt zu tun? Nun, in San Giovanni Rotondo wirkte der katholische Priester und Kapuziner Padre Pio (1887–1968). 1999 wurde er von Papst Johannes Paul II selig- und drei Jahre später heiliggesprochen. Padre Pio ist heute einer der populärsten Heiligen Italiens. Womit San Giovanni Rotondo zu einem Pilgerort wurde. In den letzten rund 15 Jahren mussten unzählige Gasthäuser und Hotels gebaut werden. Diese müssen nun jahrein, jahraus betrieben, die Pilger bewirtschaftet werden. Was heisst, dass die Einwohner San Giovanni Rotondos nicht mehr in den Olivenhainen arbeiten. Vielmehr bewirtschaften sie die pilgernden Gäste. Die Bevölkerung des knapp 30'000 Einwohnerinnen zählenden Orts ist grossenteils in der Tourismusbranche tätig.

Matera, in und über dem Fels erbaut. Bild: ib.

Bewohnte und gebaute Landschaften
Ortswechsel: Matera, Basilikata, mit rund 60'000 Einwohnern. Auch Matera lebt mehrheitlich von Tourismus. Seit Mel Gibsons Film Die Passion Christi von 2004. Denn kamen die Touristen früher nur in den Sommermonaten, so reisen sie seither während des ganzes Jahres an. Mel Gibson drehte die Aussenszenen seines Films mehrheitlich in den Sassi, den Höhlensiedlungen von Matera, sowie in der Schlucht und auf den umliegenden Hügeln. Matera wird als eine der ältesten Städte der Welt bezeichnet. In Matera leben seit dem Neolithikum Menschen – und damit seit rund 7000 Jahren. Lange wohnten sie in den Sassi, die in den felsigen Hängen der Karstschlucht Gravina entstanden sind.

Erst im Jahre 1968 zogen die letzten Bewohner aus den Sassi aus. Oder anders formuliert: Noch vor 50 Jahren lebten zahlreiche Einwohnerinnen und Einwohner Materas in einer wohl ausgebauten, aber unter der Erdoberfläche liegenden Wohnung, einer Höhle. Die Räumung der Höhlensiedlungen in den 1950er- und 1960er-Jahren hatte die italienische Regierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi angeordnet. Sie waren nicht länger zeitgemäss. Rund 15'000 Personen wurden in neu errichtete Stadtteile umgesiedelt. Nunmehr geleert, wurden die Sassi im Jahre 1993 zu einem Unesco-Welterbe erklärt. Rund 70 Prozent sind in Staatseigentum.

Nun bestehen die Sassi nicht nur aus Höhlen. Teils liegen die Räume wohl unterirdisch, teils ragen sie aber über die Erdoberfläche hinaus. Dort sind sie aufgebaut und gemauert wie andere, normale Bauten. Derzeit sind Teile der Sassi wieder bewohnt. Generell sollen die Siedlungen Schritt für Schritt saniert und restauriert werden. Vermehrt finden sich B&B und Hotels in diesen historischen Orten, nunmehr komfortabel ausgebaut und haustechnisch aufgerüstet. Grundsätzlich werden sie in ihrer Kubatur erhalten. Weiterhin geprägt vom dichten Wechsel unterirdischer, im Fels eingegrabener Räume und ihren ergänzenden Aufbauten über Boden.

Sassi schmiegen sich eng an den Verlauf ihrer Gelände. Sie sind eigentliche weiter- oder ausgebaute Landschaften. Ein weiteres Beispiel einer Art gebauten Landschaft stellen die Trulli genannten Rundhäuser dar, wovon sich eine grössere Ansammlung in Alberobello, Apulien, befindet, einem Ort mit gut 10'000 Einwohnern. Die Trulli werden grundsätzlich ins 14. und 15. Jahrhundert datiert. Sie sind so genannte Kraggewölbebauten aus Trockenmauerwerk und werden ohne Mörtel errichtet. Nachdem die Trulli lange an Bedeutung verloren hatten, steigt ihre Wertschätzung heute wieder. So ist die Siedlung in Alberobello seit 1996 ebenfalls als Unesco-Welterbe eingestuft. In Alberbello sind die Rundhäuser mehrheitlich bewohnt, als fester Wohnsitz oder als Ferienhaus.

Gebaute Hügellandschaft, Trulli in Alberobello. Bild: ib.

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