Skopje – bedrohte Stadtutopie

Peter Sägesser
19. September 2013
1963 zerstörte ein Erdbeben einen Grossteil der Stadt Skopje. Kenzo Tange gewann den städtebaulichen Wettbewerb für den Wiederaufbau. (Bild: maps.google.com)

Jugoslawien verfolgte während des Kalten Krieges einen eigenen politischen Weg und war weder Teil des Ostblocks noch Mitglied der NATO. Das Schicksal Skopjes fand weltweit Beachtung und aus der ganzen Welt gab es Unterstützungsangebote. In Skopje trafen sich das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg amerikanische und sowjetische Soldaten, um beim Wiederaufbau zu helfen. Für die UNO hatte diese internationale Zusammenarbeit unter ihrer Leitung grosse symbolische Bedeutung. Es musste vor allem neuer Wohnraum für die 140'000 nach dem Erdbeben evakuierten Menschen geschaffen werden. Russland lieferte dazu eine ganze Fabrik für die Produktion von Plattenbauelementen. Andere Länder finanzierten Spitäler oder Museen. Die Schweiz bezahlte unter anderem eine von Alfred Roth entworfene Grundschule.

​Zwei Jahre nach dem Erdbeben schrieb die UNO einen städtebaulichen Wettbewerb aus. Eingeladen waren acht Architekturbüros. Vier der Büros kamen aus Jugoslawien, vier aus dem Ausland. Unter den eingeladenen Büros befanden sich die führenden Stadtplaner dieser Zeit. Aus Holland nahmen Bakema und Van den Broek teil, aus Japan Kenzo Tange und aus Jugoslawien unter anderen Edvard Ravnikar. Die Projekte vom Zagreber Stadtplanungsinstitut mit Radovan Miščević und Fedor Wenzler und von Kenzo Tange wurden mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Dass schliesslich Kenzo Tanges Projekt für die Umsetzung gewählt wurde, hatte vor allem mit seiner radikalen Vision und dem damit verbundenen grösseren propagandistischen Potential für die Vereinten Nationen, Jugoslawien und Japan zu tun.

Der Wiederaufbau von Skopje eröffnete dem jungen Staat die Chance, eine ideale sozialistische Stadt zu bauen mit besseren Lebensbedingungen für ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Für die Schaffung einer neuen Gesellschaft kam nur die moderne Architektur in Frage. Kenzo Tange selber sah einen Vorteil darin, dass Jugoslawien ein sozialistisches Land war: «Yugoslavia is a socialist country in which land is not privately held, the city government had sufficient power to make it possible to introduce our total plan.» (1)

Fassade des Post- und Telekommunikationszentrums, 1974. Architekt: Janko Konstantinov (alle Bilder: Autor)

Schon früher war Kenzo Tange zu Besuch in Jugoslawien. 1956 war er Gast beim CIAM X Kongress in Dubrovnik. Er war beeindruckt von der klaren städtebaulichen Figur Dubrovniks. Diese war auch sein Vorbild für den Wiederaufbau von Skopje. Eine Stadtmauer aus Wohnbauten sollte das Zentrum umfassen. Als «Stadttor» würde eine monumentale Erschliessungsachse dienen. Diese Achse sollte auf mehreren Ebenen den Bahnhof mit dem Stadtzentrum verbinden. Angegliedert an diese Erschliessung waren Bürotürme und Einkaufszentren.

Tange hatte bereits 1960 eine ähnliche städtische Grossstruktur für Tokio vorgeschlagen, die aber nie gebaut wurde. In Skopje bot sich ihm nun die Möglichkeit, seine Ideen umzusetzen. Während den Planungen entwickelte sich die Stadt aber unabhängig von Tanges Masterplan weiter und der Plan wurde nur zu Teilen umgesetzt. Von der Stadtmauer steht heute etwa ein Drittel. Vom Stadttor wurden nur der Bahnhof und das Hochhaus der Handelsbank realisiert. Der Bahnhof ist auch das einzige Gebäude, das Kenzo Tange selber realisierte.

Neuer Bahnhof Skopje von Kenzo Tange, 1968 (Bilder: Autor)

Der Masterplan bereitete aber das Terrain für andere visionäre Projekte vor wie das Goce Delčev Studentenhaus und das Stadtarchiv von Gjorgji Konstantinovski. Janko Konstantinov baute für die Post eine organische Betonskulptur und Marko Musić orientierte sich bei seinem Universitätsbau an den kleinräumlichen Gassen und Plätzen der Altstadt. Am eindrücklichsten ist das Opern- und Balletthaus von 1979 des slowenischen Büros 77. Es ist weniger ein Gebäude als ein zum Fluss Vardar hin abfallendes Gebirge und erinnert in seiner Form an die Oper von Snøhetta in Oslo oder an Bauten von Zaha Hadid.

Macedonian Opera and Ballet, 1979. Architekten: Biro 77
Macedonian Opera and Ballet, 1979. Architekten: Biro 77

Heute gibt es seitens der Regierung kein Verständnis für die Bauten der 1960er- und 1970er-Jahre. Die Häuser werden kaum unterhalten. Im Studentenhaus sind einzelne Zimmer wegen eindringendem Wasser nicht mehr bewohnbar. Die massivste Zerstörung findet aber aktuell statt. Die regierende, konservative Partei will mit ihrem Programm „Skopje 2014“ bis nächstes Jahr eine grosse Zahl von Monumenten, Gebäuden und Denkmälern errichten. Sie versteht dies als identitätsstiftend für das kleine Land. Die Neubauten werden aber in keiner Weise der kulturellen Vielfalt des Landes gerecht. Die Architekten und Architektinnen werden angehalten, in einem pseudoklassizistischen Stil zu bauen. Was dabei entsteht ist ein semantischer Albtraum. Ziel von „Skopje 2014“ ist dabei nichts weniger als eine neue Geschichtsschreibung. Dabei stören die Bauten aus der Zeit des Sozialismus. Diese werden hinter den neoklassizistischen Fassaden versteckt oder zerstört. Anfangs Jahr brannte die Schalterhalle der Post, eines der Hauptwerke aus der Zeit des Wiederaufbaus. Unklar ist, was mit dem beschädigten Gebäude, das sich an bester innerstädtischer Lage befindet, geschehen soll.

Die Neubauten beheimaten vor allem Ministerien und erwirtschaften deshalb keinen Ertrag. Sie werden in Zukunft vor allem eine finanzielle Last für den nicht gerade reichen Staat sein. Damit dürften für die grossartigen Bauten wie die Oper oder das Studentenhaus weiterhin die Mittel für Sanierungsmassnahmen fehlen. Wenn die Entwicklung in Skopje weiterhin in diese Richtung geht, wird die Stadt sein einzigartiges Architekturensemble verlieren. Peter Sägesser

​(1) Lin Zhongjie: Kenzo Tange and the Metabolist Movement, Urban Utopias of Modern Japan, New York, 2010


Zum Autor
Peter Sägesser ist Architekt mit eigenem Architekturbüro, arbeitet im Vorstand des Architekturforums Bern und organisiert Architekturreisen. Seit Studienzeiten interessiert er sich für osteuropäische Architektur. Er bereist die Länder zwischen Estland und Mazedonien und dokumentiert Städte und Gebäude zwischen (dem ehemals ostdeutschen) Erfurt und dem ukrainischen Donezk. Einen Teil seines Bildarchivs zur sozialistischen Nachkriegsarchitektur stellt er auf www.ostarchitektur.comvor.

(an)gemerkt
Wer mehr  über die Region bzw. Ex-Jugoslawien erfahren möchte, dem empfiehlt der Autor den Roman von Ivo Andrić «Die Brücke über die Drina. Eine Wischegrader Chronik», in dem vierhundert Jahre Regionsgeschichte erzählt werden.

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