Spiegel einer globalisierten Welt

Inge Beckel
2. Juli 2015
Entspanntes Reisen durch eine fast leere Alpenwelt …? Alle Bilder: myswitzerland.com.

Schweiz Tourismus hat unlängst die Grand Tour of Switzerland lanciert. Die 1600 km lange Reise biete eine geballte Ladung Schweiz mit landschaftlichen und kulturellen Perlen, so heisst es auf der Homepage. Einstieg bietet ein Video, auf dem zwei stämmige ältere Männer, beide mit Bart und einer mit Zipfelmütze, vier jungen Touristen den Weg zu den Highlights des Landes weisen. Im Wagen sitzen die Männer vorne, die Frauen im Fond. Das Auto ist ein älteres deutsches Modell, in warmem Bordeaux-Rot, Fenster und Front sind eingefasst mit silbern glänzenden Leisten. Das Modell ist insofern symptomatisch, als die Filmreise in harmonische, fast leergeräumte Orts- und Kulturlandschaften führt. Keine überfüllten Strassen, keine Imbissbuden, nur Eleganz, Aufgeräumtheit, Heiterkeit. Eine Welt von gestern?
 
Gesellschaftspolitische Fragen
Denn längst wirft das Reisen und mit ihm der Tourismus auch kritische Fragen auf. Fragen, die mitunter gesellschaftspolitischer Art sind. Während beispielsweise Barcelona auf der einen Seite zusehends unter dem Druck des Massentourismus leidet – vgl. Angesagt ist Zusammenleben, Koexistenz!, in: eMagazin 25/15 –, sind auf der anderen Seite Klagen etwa aus dem Alpenraum über sinkende Auslastungen hinlänglich bekannt. Sicherlich betrifft dieser Rückgang nicht alle Orte gleichermassen und gilt nicht für Hochsaisons. Doch wird der Tourismus von Betreiberseite noch allzu oft als Retter in der (wirtschaftlichen) Not verstanden. Und auf Seiten der Gäste gleichzeitig allzu oft als «natürliche» und «heile» Gegenwelt zum (Dichte-) Stress der Zentren missverstanden.

Grund genug, sich den Alpen exemplarisch zu widmen. Wie dies der Geograf Werner Bätzing in einer Streitschrift getan hat. Bätzing interpretiert die Situation der Alpen jedoch nicht als Sonderfall oder Gegenstück der Metropolen, sondern als Ausdruck von Problemen der globalisierten Welt schlechthin. Und damit geht sie uns alle an, wo wir auch leben oder wohin unsere Reisen uns führen mögen. Sein handliches Büchlein heisst Zwischen Wildnis und Freizeitpark. Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen, das unlängst im Rotpunktverlag erschienen ist. Dieses gliedert sich in die Bereiche Analyse des Istzustands, Zeitgeist-Perspektiven und unzeitgemässe Perspektiven. Interessant sind letztere. Es sind jene des Autors, der auch als bedeutendster Alpenforscher Europas gilt.

Vielleicht etwas kitschig. Aber insofern zukunftsweisend, als dass kulturelle Werte statt Geld als Schlüsselfaktor zu betrachten sind.

Zeitgeist-Perspektiven: Alpen als Ergänzungsraum
Für den alpinen Raum gebe es derzeit fünf Zeitgeist-Perspektiven, so nennt sie der Autor. Der ist aber der Ansicht, dass bei genauerer Betrachtung alle fünf davon ausgehen, dass die Alpen periphere Räume sind und bleiben. Ihre Aufgabe ist es, als Ergänzungsraum zu den grossen wirtschaftlichen Zentren zu fungieren. Echte Alternativen zu diesem Ergänzungsraum-Szenario würden weder angedacht noch diskutiert. Gemeinhin als realistisch betrachtet aber wird das Szenario – die erste Zeitgeist-Perspektive –, die Alpenregionen müssten zu den modernen Zentren aufschliessen. Was reziprok bedeutet, dass sie hinterher hinken. Denn muss man aufholen, was andernorts schon ist, sind jene Anderen stets schneller. Aber: Ist jenes Andere, «Moderne» das Richtige für die Alpen?

Eine weitere Perspektive entspringt einer neoliberalen Haltung, als gefragt wird, inwiefern es sich lohnt, in weniger effiziente und entsprechend weniger Gewinn bringende Gebiete zu investieren? Würde die Frage mit nein beantwortet, hiesse dies, die Alpen zu extensiven oder gar verlassenen Brachen werden zu lassen, wie etwa in den Nullerjahren vom ETH-Studio Basel propagiert. Eine dritte Perspektive erklärt die Alpen zu einem grossen Fun- oder Freizeitpark. Und die Bewohner und Einwohnerinnen damit zu Statisten. Für eine vierte sind die Alpen primär Wasserschloss und Energiespeicher. Eine fünfte Perspektive schliesslich wird als radikal naturschützerisch umschrieben, denn wenn von Menschenhand nichts mehr getan werden darf, entsteht eine grosse Wildnis.
 
Es gibt Alternativen!
Wirklich gut ist keine der Perspektiven. Der Geograf Bätzing sieht Alternativen – womit er, dies muss gesagt sein, nicht alleine ist. Seinen Ausblick auf eine lebenswerte Zukunft der peripheren Regionen nennt er selbstbewusst: Vorbilder für Orte guten Lebens in Europa. Vorerst aber geht es darum zu begreifen, dass «in den Alpen als einem extremen Naturraum und einem spezifischen Kulturraum zentrale Probleme der Moderne schnell eine Tendenz hin zur Selbstzerstörung entwickeln und sich so nicht mehr verdrängen lassen.»1 Zentrale Probleme der Moderne sind genannt: Natur als Material, Wirtschaft als Selbstzweck und menschliches Leben als Inszenierung. Mit dieser Haltung besteht die Gefahr, dass alle nicht nutzenmaximierten Lebens- und Wirtschaftsformen zerstört werden.

Es sind wiederum fünf Punkte oder Thesen, die Bätzing als Bausteine einer lebenswerten Zukunft der Alpen ansieht: Die erste lautet, nicht Geld als das oberste Kriterium der Entwicklung zu betrachten, sondern kulturelle Werte. Zweitens sollen die Qualitäten und möglichen Standortvorteile von peripher gelegenen Orten evaluiert und gefördert werden. Drittens ist eine Koexistenz von Naturschutz und einer angepassten Nutzung dieser Räume anzustreben. Viertens gilt es, multifunktionale Nutzungen und damit Vielfalt zu fördern statt Monostrukturen und Monokulturen. Und fünftens – was aus Punkt 4 folgert – sind spezifische, an einen Ort passende Lösungen und Szenarien zu erarbeiten, anstatt auf globale Standards und nivellierte Vorbilder zurückzugreifen.
 
Erneut4: Koexistenz und Zusammenleben
Dies klingt etwas theoretisch. Wichtig ist es Bätzing aber, dass die grundsätzlichen Unterschiede zwischen einer regionalen und der globalen Wirtschaft nicht nivelliert werden. Dass, anders gesagt, die Differenzen zwischen den Systemen wahrgenommen und nach ihren Chancen betrachtet werden. Und dass letztere gestärkt werden. Dass dabei sinngemäss zwei parallele Wirtschaftssysteme koexistieren, ist keine Gefahr, sondern ein Potenzial. Denn sie sollen sich nicht konkurrenzieren, sondern ergänzen. Und tun, was die jeweils andere Wirtschaft nicht leisten kann. Oder nicht leisten will, denn alle Konsumentinnen und Konsumenten der Welt suchen glücklicherweise nicht stets nach demselben. Schliesslich schafft Differenz Profil!

Neben Tourismus und Landwirtschaft kann das Handwerk ein Standbein einer regionalen Wirtschaft sein. Schreiner, Zimmermänner oder Weberinnen brauchen Platz. Oft mehr, als der teure Boden in den Metropolen hergibt. So wurde etwa in Bozen im Südtirol eine Ausbildung für Handwerker geschaffen.2 Vergleichbare Bemühungen gibt es in der Schweiz.3 Handwerksberufe können an regionale Überlieferungen und lokale Traditionen anknüpfen und zu Differenz und Identifikation beitragen. Handwerk kann durch den Rhythmus der Wiederholungen zuweilen fast meditativen Charakter haben. Handwerk kann zu einem Lebensunterhalt beitragen – diesen allenfalls ganz garantieren. In jedem Fall kann Handwerk Berufung sein – auch für Städterinnen.
 
Fazit: Anstatt periphere Regionen als Sonderfälle sind sie vielmehr als Spiegel grundsätzlicher Probleme und Debatten zu betrachten. Womit es gilt, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Nicht dieselben, aber als Teile eines sich ergänzenden Ganzen. Eines vielleicht erneut aufgeräumten, heiteren Zusammenlebens.


Anmerkungen
1 Werner Bätzing, Zwischen Wildnis und Freizeitpark, Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen, Zürich 2015, 129/130, hier.
2 Josef Perger, Handwerk als Wahrnehmen und Formgeben – eine Perspektive für die alpine Peripherie, in: Bündner Monatsblatt, 2/2015, S. 125; hier.
3 Etwa über das Forschungsprojekt «Orte schaffen» am Lehrstuhl von Gion Caminada an der ETHZ; mehr hier.
4 Vgl. Angesagt ist Zusammenleben, Koexistenz!, in: eMagazin 25/15, hier.

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