Vom Sog der Neuheiten

Uta Abendroth
15. April 2015
Carl Hansen & Son, Colonial Series, Ole Wanscher

Vorhang auf für die 54. Edition der Mailänder Möbelmesse, in diesem Jahr mit den Saloni-Satelliten Euroluce, Saloni Ufficio und Salone Satellite. Wie jedes Jahr Mitte April begibt sich die Möbelbranche auch 2015 in die lombardische Hauptstadt. Seit einigen Jahren wandelt sich die graue Industriestadt zu einer grünen Metropole – das macht schon mal ein gutes Gefühl. Und dieser äussere Wohlfühlfaktor ist das, was unsere Gesellschaft derzeit im Inneren zu brauchen scheint. Der Zeitgeist? Sicherheit! Dieses Bedürfnis bedienen die Hersteller von Sofas, Stühlen, Betten, Tischen, Regalen, Schränken und vielem mehr par excellence. Zum Beispiel mit extrem flauschig-weichen Bezügen, mit Klassiker-Reeditionen aus so ziemlich jeder Epoche des vergangenen Jahrhunderts und mit Möbeln aus Holz, am besten handmade und mit möglichst natürlicher Oberfläche.

Carl Hansen & Son, Tablett-Tisch CH417, Hans J. Wegner

Eine perfekte Melange aus Holz, Handmade und Retro wird Carl Hansen & Son auf dem diesjährigen Salone präsentieren. Jedes Produkt des dänischen Hersteller steht für über 100 Jahre Möbelgeschichte sowie den Respekt und die Leidenschaft für Handwerkskunst – frei nach dem Leitspruch «Every piece comes with a story». Hans J. Wegners filigraner Klassiker «CH88» mit der charakteristischen Rückenlehne aus dampfgebogenem Holz wird erstmals mit farbigen Gestellen zu sehen sein. Funktional und wandelbar zeigt sich die Neuauflage des 1970 von Hans J. Wegner entworfenen Tablett-Tischs «CH417». Der Couchtisch erweist sich mit seinem zusammenklappbaren Gestell und der beidseitig verwendbaren Tablettauflage als wahres Multitalent. Optisch interessant macht ihn der spannende Materialmix aus Stahl, Laminat und Holz. Schliesslich komplettiert Carl Hansen die «Colonial Series» von Ole Wanscher mit einem Zweisitzer-Sofa und einem passenden Kaffeetisch.

Eine echte Neuerung kommt nicht aus dem Firmenarchiv, sondern von dem österreichischen Design-Trio EOOS. Bei ihrem «Embrace Chair», die Neuinterpretation eines klassischen Esstischstuhls, umfängt das wohlproportierte Holzgestell einen Sitz, der wie eine perfekt gefaltete, weiche Decke wirkt.

Auch Thonet ist einerseits dabei, seine Klassiker aufzufrischen – im vergangenen Jahr wurden Mart Stams Klassiker «S 43», der Loungesessel «S 411» sowie Marcel Breuers Beistelltisch «B 9» in Tomatenrot, Weiss, Schwarz, Schokobraun, Warmgrau, Graugrün und Senfgelb gezeigt. Andererseits wollen die Frankenberger dem Anspruch an Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit Rechnung tragen, wenn sie unter anderem in der Edition «Pure Materials» beim klassischen Bugholzstuhl an Stelle von europäischer Buche heimische Esche verwenden. Das ebenso feste wie elastische Holz wird bewusst nur leicht behandelt, so dass man die Strukturen der lebendigen Oberfläche optisch und haptisch erleben kann.

Doch Produktpflege allein reicht nicht, die Kollektion muss erweitert und aktuellen Wohngepflogenheiten angepasst werden. Und so kommt nun – nachdem auf der imm im Januar in Köln der Lounge-Sessel «808» des Münchner Designstudios Formstelle Premiere feierte – ein weiterer neuer Produkttypus hinzu: das Bugholzsofa. Christian Werners Entwurf schlägt eine Brücke zwischen dem klassischen Thonet-Erbe und der Gegenwart, wenn massives Holz ein bodentiefes, üppiges Sitzpolster umfängt. Das Programm «2000» wird durch seinen grosszügigen Bugholzbügel zum Blickfang, das bodentiefe Polsterelement bietet hohe Bequemlichkeit.

Thonet, Bugholzsofa, Christian Werner

Ebenso wie die Deutschen versteht es das schwedische Unternehmen Karl Andersson & Söner scheinbar Traditionellem einen modernen Dreh zu verleihen. Fredrik Torsteinsen entwarf mit «Stix» einen Tisch, dessen Glasplatte förmlich über den schlanken Beinen zu schweben scheint. Darin liegt nicht der einzige Clou, denn durch die Transparenz der Platte wird gleichzeitig der Blick auf das handwerklich und konstruktiv aufwendige Gestell aus Eiche, Birke oder Esche gelenkt, das vage an gefallene Mikadostäbe erinnert, die sich dann aber irgendwie gegenseitig halten.

Karl Andersson & Söner, Stix, Fredrik Torsteinsen

Optisch weniger spektakulär, aber nicht minder durchdacht ist «Press». Jahrelang tüftelten die Designer Lars Pettersson und Morgan Rudberg an einem Mechanismus, um einen Klapptisch komplett aus Holz zu entwerfen, der leichter ist als vergleichbare Modelle, aber nicht weniger stabil, einfach zusammenzuklappen, aber dennoch genau so langlebig wie ähnliche Konstruktionen. «Press» kommt ohne stabilisierende Kreuze oder Träger aus, so dass auch an den Tischenden Beinfreiheit gewährleistet ist. Ein versteckter Griff, in die Unterseite der Tischplatte eingearbeitet, sorgt dafür, dass «Press» leicht zu bewegen ist.

Karl Andersson & Söner, Press, Lars Pettersson und Morgan Rudberg

Keinen leicht-beschwingten, sondern eher karg-minimalistischen Charme verbreiten die Bank «Fawley», der Hocker «Lengley» und der Tisch «Fayland» von David Chipperfield. Im Jahre 20 nach Gründung seiner Firma e15 gibt Philipp Mainzer damit ein erneuertes Bekenntnis zu Massivholz ab: für die Möbel des Architekten kann man zwischen Nussbaum und geölter, weiss pigmentierter oder schwarz lackierter Eiche wählen. Die drei Entwürfe von Chipperfield sind wie sein Berliner Neues Museum: Es geht nicht um die grosse Schau, aber die Einfachheit – bei den e15-Möbeln kennzeichnet eine Mittelzarge die Produktfamilie, Platte und Sitz haben jeweils nur einen kleinen Überstand. Die Beine sind leicht abgeschrägt – das hat am Ende doch etwas Imposantes und Eindrückliches.

e15, Fayland, David Chipperfield

Der italienische Möbelhersteller Kristalia präsentiert zahlreiche Produktneuheiten sowie -erweiterungen. Ein interessantes Produkt ist der Stuhl «1085»: Bartoli Design arbeitete dafür mit dem Traditionsunternehmen Presot zusammen,  das seit 1933 die Schuhsohlen für die wichtigsten italienischen Marken erzeugt. Das Naturleder des Stuhls wird mit den Jahren ganz unvermeidlich nachgeben, die Oberfläche und die Farbe werden sich verändern, aber der Stuhl an sich wird bei diesem Wandel über Jahre hinweg in Schönheit altern. Und gleichermassen funktional bleiben.

Kristalia, 1085 Hide Chair, Bartoli Design

Für innovative Materialkombinationen stehen die Brüder Bouroullec. Seit Jahren legen sie die Latte jedes Mal wieder neu und höher auf, wie jüngst mit ihren Arbeitstischen «Officina» für Magis. In diesem Jahr stellt Vitra ihre Stühle «Belleville» vor, die Holz und Kunststoff auf ungewöhnliche Art zusammenbringen. Sie bestehen aus einer Polyamid-Rahmenstruktur und Sitzschalen aus dem gleichen Werkstoff, aus hauchdünnem Sperrholz, wahlweise mit Stoff oder Leder gepolstert. Die schwungvolle Silhouette des Stuhls wirkt wie die Übertragung von eleganter französischer Mode auf ein Möbel. Aber das Sitzmöbel ist nicht nur schön, sondern auch praktisch: «Belleville» ist stapelbar und damit platzsparend unterzubringen. Ergänzend gehören zwei Tische zu der Kollektion, der eine klein und rund mit sternförmigen Beinen, der andere gross und rechteckig. Auf den gegossenen Beinen mit schwarz beschichtetem Aluminium erheben sich Platten aus Kunstharz, Holz oder Stein.

Vitra, Belleville Chair, Ronan & Erwan Bouroullec

Das Spiel mit dem Material treibt Baleri Italia by Hub Design auf die Spitze: Maurizio Galante und Tal Lancman haben mit «Mies visits Carrara» ein Daybed entworfen, für das Ludwig Mies van der Rohes «Barcelona»-Liege (Knoll) Pate stand. Nur kommt kein Leder zum Einsatz, sondern auf den ersten Blick scheint Carrara-Marmor die Matratze und die Nackenrolle zu bilden. Erst auf den zweiten Blick – oder beim Anfassen – entpuppt sich der Marmor als Polyurethan-Schaum, der mit einem Seide-Viskose-Gemisch mit Marmor-Fotodruck bedruckt ist.

 
Knoll ist eine der Marken, die in diesem Jahr Vintage-Entwürfe in den Fokus rückt, darunter den «Pollock Arm Chair» von Charles Pollock aus dem Jahr 1960 und den «Diamond Chair», 1952 von Harry Bertoia entworfen.

Die spannende Frage ist, wie viele echte Neuheiten sich unter die Produkte aus der Vergangenheit mischen werden. Wie heben sie sich ab und was können sie, was die Klassiker nicht können. Und kommen die Möbler aus der Komfortzone heraus und trauen sich, mutig in die Zukunft zu blicken? Nur so kann Mailand mehr sein, als nur Wahrer der Designhistorie.

Baleri Italia, Mies visits Carrara, Maurizio Galante und Tal Lancman

Uta Abendroth ist freischaffende Journalistin, spezialisiert auf Design und Architektur. Sie war Redakteurin bei Design Report, Architektur & Wohnen, Schöner Wohnen, Häuser und Brigitte. Sie lebt in Hamburg.

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