Beseelte Architektur

Susanna Koeberle
21. August 2018
Ausstellungsansicht: Bild: © Giovanni Emilio Galanello

Zurecht wurde diese Ausstellung um drei Monate verlängert : Freeing Architecture in der Fondation Cartier (Paris) ist eine herausragende Architekturausstellung, welche der Arbeit des japanischen Architekten Junya Ishigami gewidmet ist. Ishigami, 1974 geboren, gehört der jungen Architektengeneration Japans an, die sich um Toyo Ito und Kazuyo Sejima gebildet hat. Nach dem Studium der Architektur arbeitet er einige Jahre bei SANAA und gründet 2004 sein eigenes Büro junya.ishigami + associates. Sein konzeptueller und poetischer Ansatz zeigt sich schon bei seinem Beitrag für die 12. Architekturbiennale Venedig (2010), für den er den Goldenen Löwen erhält. Quasi unsichtbar war damals sein Wohnhaus, das fast in der Luft zu schweben schien. «Für wen ist Architektur? Für alle oder für ein spezifisches Individuum? Für Menschen oder für alle beseelten Lebewesen? Ich möchte frei über Architektur nachdenken können. Ich nehme eine Zukunft vorweg, in der neue, nie zuvor denkbare Aufgaben und Bedingungen für Architektur ihre Form annehmen», wird der Architekt im Vorwort der Ausstellungspublikation zitiert.

Die Ausstellung in der Fondation Cartier (Architektur: Jean Nouvel) zeigt zwanzig Projekte in Europa und Asien; viele davon sind noch nicht fertig gestellt. Die riesigen Modelle, die eigens für diese Schau angefertigt wurden, wirken eher wie Installationen und werden begleitet durch Zeichnungen und erklärende Filme. Dieses Setting hat etwas Anschauliches und weckt das Interesse für die Bauten auf unterschiedlichen Ebenen. Nie hat man das Gefühl, sich vor klassischen Architekturmodellen zu befinden. Das Verschwimmen von Grenzen, etwa zwischen Natur und Gebautem, ist ein wesentliches Merkmal von Junya Ishigamis Projekten. Insofern ist seine Architektur typisch japanisch. Die Ausstellung vermittelt ein Gefühl für die Komplexität dieser Bauwerke – und für die Langsamkeit ihrer Entstehung. Denn Ishigamis Bauwerke sind nur scheinbar einfach.

Ausstellungsansicht. Bild: © Giovanni Emilio Galanello

Architektur entsteht bei Ishigami als Reaktion auf einen spezifischen Kontext – doch sie geht noch einen Schritt weiter. Seine Architektur ist nie Setzung, sondern höchstens eine Antwort auf die bestehende Landschaft oder das urbane Gewebe. Es ist, als ob sie der Umgebung nichts hinzufügen würde, als würde sie verschwinden und sei sie bloss dazu da, das Augenmerk auf das Vorhandene zu richten statt auf sich selbst. Das ist Ishigamis Interpretation von architektonischer Freiheit. Für Botanical Farm Garden in Tochigi (Japan) etwa errichtete er vor dem Bau eines entstehenden Hotels einen Garten mit den 300 Bäumen, die dem Bau weichen mussten. Damit schuf Ishigami eine zweite Schicht Natur, die sich palimpsestartig über die existierende Landschaft legt. Beim Rundgang durch die Ausstellung wird die Besucherin wiederholt an japanische Animes erinnert. Dass diese Bauten wirklich in der Realität existieren, scheint zuweilen unwahrscheinlich. Und doch: Es gibt sie, sie entstehen, sie wachsen. Sie beweisen, dass Architektur nicht (bloss) aus Wänden besteht, sondern in erster Linie aus Ideen. Das mag vielleicht fast etwas Naives haben, doch am Anfang von Fakten stehen oft Utopien. Wir brauchen Architekten wie Junya Ishigami.

Ausstellungsansicht: Bild: © Giovanni Emilio Galanello

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