Die Grenze als Raum denken

Susanna Koeberle
9. Februar 2021
Der Fotograf Iwan Baan unternahm für seinen Fotoessay eine Reise entlang der Grenze zwischen Mexico und den USA. Im Bild: El Paso, Texas and Juarez, Chihuahua-Wüste, 2018 (Foto: Iwan Baan)

Ein treffendes Bild für die schwierige Beziehung zwischen Mexiko und den USA sind die Grenzabsperrungen zwischen den Nachbarländern. Während der Trump-Ära wurde die Mauer stark ausgebaut. Doch Mauern sind nie eine gute Voraussetzung für einen Dialog, sie verschärfen die Probleme nur oder lenken von ihnen ab. Obschon die beiden Länder in vielerlei Hinsicht miteinander verbunden sind und eine gemeinsame Geschichte teilen, dominiert ein trennender und negativ gefärbter Diskurs. Anlässlich eines Gespräch, das im Rahmen der letztjährigen «Engadin Art Talks» stattfand, sagte mir die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao, dass sie den Mangel an gegenseitigem Verständnis als verheerend und gefährlich betrachte. Eines der Ziele ihrer Unterrichtstätigkeit an der renommierten amerikanischen Universität Yale ist deswegen das Fördern von gegenseitigem Austausch, denn ein solcher macht ein Aufdecken verkrusteter Klischeevorstellungen möglich. 

Das 2018 initiierte Projekt ist eine transdisziplinäre Recherche, die eine Kartografierung (im eigentlichen sowie im übertragenen Sinne) der komplexen Verstrickungen zwischen den Ländern unternimmt. Die Ergebnisse wurden zunächst in einer Ausstellung an der Yale School of Architecture Gallery (November 2018 bis September 2019) präsentiert. Ergänzt wurden die Entwürfe von dreizehn Architekturfakultäten aus Mexiko und den USA durch Bilder des niederländischen Architekturfotografen Iwan Baan. Die Ausstellung wanderte anschliessend, unter anderem war sie 2019 auch im Aedes Architekturforum in Berlin zu sehen. Der bei Lars Müller Publishers erschienene Band mit dem Titel «Two Sides of the Border: Reimagining the Region» versammelt nun die vielschichtigen Beiträge und den sensiblen Fotoessay von Iwan Baan.

Mauer bei Tijuana, Baja California, 2018 (Foto: Iwan Baan)

Bilbao versteht das Buch als unfertige Sammlung von Texten, als eine Art Collage, die in erster Linie versucht, Schichten freizulegen, um der oft einseitigen Sichtweise zu begegnen. Die mexikanische Architektin ist überzeugt, dass die Suche nach einem neuen Narrativ nur über Mehrstimmigkeit geschehen kann. Dass dabei auch künstlerische und wissenschaftliche Disziplinen zu Wort kommen, bekräftigt ihre Sichtweise von Architektur als ein Fachgebiet, das Kultur, Politik und exakte Wissenschaften vereint. Die Antworten auf die Frage, wie zwei Länder als ein einziges Territorium verstanden werden können, sind dementsprechend divers. Die universitären Projekte kommen aus ganz unterschiedlichen Richtungen, beispielsweise aus der Kunst, der Biologie oder der Geschichte. So etwa der Beitrag von Sarah Lynn Lopez, die anhand des Themas Migration von Geld und Objekten auch die Bauweise der sogenannten Remittance Houses beleuchtet. Diese mit dem in der Fremde verdienten Geld gebauten Häuser verkörpern die ambivalente Beziehung der Migrant*innen zu ihrer Heimat. Die Migration führt zu einer Art andauerndem Übergangszustand, der sich schliesslich als Lebensweise festigt. Dieser doppelte Bezug manifestiert sich in den Häusern, die sich bewusst von anderen Bauten im Dorf absetzen. Durch das Importieren von amerikanischen Gewohnheiten entstehen auch neue Geschäftsmodelle. Umgekehrt werden auch mexikanische Haustypologien exportiert. Dieses Netzwerk charakterisiert das ganze Grenzgebiet.

Ein Remittance House in Acambaro, Guanajuato, 2018 (Foto: Iwan Baan)

Das Gefälle in der Wahrnehmung der eigenen Kultur hat Schattenseiten. Bilbao, die auch in der nach den Erdbeben von 2017 gegründeten Bewegung ReConstruir México tätig ist, betonte im Gespräch mit mir, dass die Schäden vieler Häuser auf schlechte Baumaterialien zurückzuführen seien. Dass solche verwendet werden, hängt nicht zuletzt mit dem Freihandelsabkommen NAFTA (North American Free Trade Agreement) zusammen (das kürzlich neu verhandelt wurde). Lokale Bauweisen wurden zugunsten von neuen aufgegeben, weil diese für Modernität und Fortschritt standen. Auch die Auswirkungen des Handelsabkommens auf die Ernährung der Bevölkerung waren eher negativ als positiv. Bilbao engagiert sich für einen Austausch auf Augenhöhe und möchte mit der vorliegenden Publikation zeigen, dass die Idee einer Grenze als Linie immer eine Fiktion ist. 

Two Sides of the Border: Reimagining the Region

Two Sides of the Border: Reimagining the Region
Tatiana Bilbao, Ayesha S. Ghosh, Nile Greenberg (Hrsg.)

165 × 240 Millimeter
488 Seiten
350 Illustrationen
Paperback
ISBN 9783037786086
Lars Müller Publishers
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