Grosse Ambitionen weichen noch zu oft altbekanntem Standard
Katinka Corts
24. September 2024
Jacqueline Pauli leitet den Lehrstuhl für Tragwerksentwurf der ETH Zürich. (Foto: Christian Schnur)
Jacqueline Pauli gehört einer neuen Generation von Bauingenieurinnen an. Die ETH-Professorin fordert effizientere Bauweisen und einen intelligenteren, verantwortungsvolleren Umgang mit Materialien.
In den letzten Jahren hat sich auf dem Campus der ETH am Hönggerberg viel getan: Philippe Block gründete am Institut für Technologie in der Architektur (ITA) die Block Research Group. Die Forschenden beschäftigen sich mit grafischen Analysemethoden und neuen Wegen der Formfindung. Catherine De Wolf befasst sich am Lehrstuhl Circular Engineering for Architecture (CEA) mit der Kreislaufwirtschaft im Bauwesen. Dabei legt sie einen Schwerpunkt auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und künstlicher Intelligenz. Weniger als zwei Jahre ist es ausserdem her, dass Jacqueline Pauli den Lehrstuhl für Tragwerksentwurf von Joseph Schwartz übernommen hat. Als Doktorandin, erklärt die Bauingenieurin, habe ihr die Praxis gefehlt. In den zehn Jahren praktischer Büroarbeit danach wiederum sei für Forschung und Vertiefung zu wenig Zeit gewesen. «Bauliche Themen auch mal ohne ein konkretes Projekt hinterfragen zu können, hat eine grosse Qualität. Am ITA der ETH habe ich die Chance, beides zu kombinieren.»
«Leuchtturmprojekte, bei denen neue Technologien eingesetzt werden, sind wichtig. Aber sie laufen über viele Jahre. In ihrem Schatten wird weiter konventionell gebaut und abgewartet, ob sich die Neuerungen bewähren. Wir verlieren dadurch Zeit, die wir eigentlich nicht haben.»
Am ITA ist das Zusammenspiel von Forschung und Anwendung spürbar: Im Erdgeschoss des 2016 fertiggestellten Gebäudes HIB werden neue Bautechniken erprobt, im Galeriegeschoss befinden sich hinter Glaswänden zahlreiche Büros. In einem arbeitet Jacqueline Pauli. Die unmittelbare Nähe zu ihren Kolleginnen und Kollegen mache viel aus, sagt sie. Das ITA empfindet die Ingenieurin als eine Art Schmelztiegel, in dem alle gemeinsam lernen und entdecken. In der Praxis hingegen gelinge diese Zusammenarbeit, die sie im Forschungsumfeld erlebt, nicht immer. «Bei den Projekten unseres Büros erlebe ich das ganz unterschiedlich», erklärt Pauli, die zur Geschäftsleitung von ZPF Ingenieure gehört. «Es hängt sehr von den jeweiligen Koordinatoren der Projekte ab. Manche fördern Zusammenarbeit sehr, andere weniger.»
Neben jenen Ingenieuren, die sich intensiv mit Materialien und Materialreduktion beschäftigen, gebe es auch noch sehr viele, die «wie immer» bauen, meint Pauli kritisch. In einer Zeit, in der jedem die Auswirkungen des Bauens und des Verbauens von Material bewusst sein sollten, ist das aber keine Option mehr. In der Schweiz, so Pauli, seien bereits viele begrüssenswerte Gegenmassnahmen ergriffen worden. Doch selbst wenn bereits in der Wettbewerbsphase Grenzwerte für den ökologischen Fussabdruck eines Gebäudes vorgegeben werden, stosse man später auf Hürden: «Es geht oft so lange gut, bis der Entwurf konkreter wird und die ersten Kosten bekannt werden», erklärt die Ingenieurin. Eine umweltfreundliche Bauweise sei meist etwas teurer als Standardkonstruktionen aus Beton oder Stein. Auch aus anderen Gründen können Bauweisen, die vom Altbekannten abweichen, mitunter zum Problem werden: «Kombiniert man beispielsweise Materialien auf eine neue oder auch wiederentdeckte Weise, kann das Unbehagen bei der Bauherrschaft auslösen», sagt Pauli. «Bei vielen Projekte, die mit Ambitionen starten, wird schlussendlich in der Planungsphase doch wieder auf altbekannte Systeme zurückgekrebst.»
Und doch muss in Zeiten der Klimakrise und der Ressourcenverknappung trotz Unbehagens und möglicher Kostensteigerungen überlegt werden, welches Material wo wirklich sinnvoll eingesetzt werden kann. Jahrzehntelang wurde (fast) alles aus Beton gebaut, hohe Arbeitskosten wurden gegen immensen Materialaufwand getauscht – ohne auf schwindende Ressourcen Rücksicht zu nehmen. Inzwischen wissen wir es besser – möchte man meinen. Oder doch nicht? «Mittlerweile sind wir leider im Holzbau so weit, dass wir alles, wann immer es möglich scheint, aus Holz bauen», zeigt sich Jacqueline Pauli nachdenklich. «Würden wir mehr darauf schauen, welche Materialien an welcher Position wirklich am effizientesten sind, wären wir einen riesigen Schritt weiter.»
Jacqueline Pauli lehrt an der ETH Zürich Tragwerksentwurf. Die Professorin engagiert sich zudem in der Technischen Kommission des Stahlbau Zentrums Schweiz (SZS) und ist Vorstandsmitglied der SIA Fachgruppe Brückenbau und Hochbau. Seit 2015 gehört Pauli der Geschäftsleitung des Büros ZPF Ingenieure an, 2020 übernahm sie die Leitung der ZPF Consulting AG.
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