Inside Neue Börse

Sonja Lüthi
11. März 2019
Von aussen scheinbar unverändert hat sich das Innere der Neuen Zürcher Börse stark gewandelt. Bild: Jürg Zimmermann, Zürich

Mit wohl kaum einem anderen Gebäude der Innenstadt verbindet die Zürcher*innen ein dermassen ambivalentes Verhältnis wie mit der 1992 von Suter+Suter erbauten «neuen Börse» in Zürich-Selnau. Das Gebäude mit einem Fussabdruck von 130 auf 52 Meter und glänzender Granitfassade scheint für die Ewigkeit gebaut. Es wirkt mit seinen drei kreisrunden Einschnitten auf die Börsennutzung hin massgeschneidert. Das ikonische Aussenbild hatte mit den dahinter liegenden sechs Börsenringen allerdings schon immer nur wenig zu tun. Und bereits vier Jahre nach Betriebsstart machte die Digitalisierung den traditionellen Ringhandel überflüssig, und mit ihm den Zürcher Börsentempel.

In seinem Artikel zu «Schwerverdaulichem» listet Hochparterre-Redaktor Werner Huber die Neue Börse denn auch als «überflüssigstes Gebäude der Stadt» auf und als «sperrigen abweisenden Koloss». Immerhin räumt Huber ein, dass der «erratische Block zwischen Sihl und Schanzengraben mit der Sprachschule EF eine Nutzung gefunden hat, die die grossen Räume auch ausfüllt». Es gibt aber auch sanftere Urteile, zum Beispiel von Annette Gigon und Mike Guyer, den Architekten des Prime Towers, deren «Empfindungen nicht so bitter negativ sind, dass man sich nur noch mit der Abrissbirne behelfen könnte». Eine «kräftige Umgestaltung» täte es auch, schrieben sie im Mai 2018 in der NZZ. 

Eine neue Treppenanlage wurde eingebaut und Möbel von über 50 Herstellern aufgestellt. Bild: Jürg Zimmermann, Zürich
«Contextual Design» statt «Corporate Architecture»

Schiere Grösse, aber auch gute Vernetzung in der Stadt waren die Kriterien für die Standortwahl des europäischen Hauptsitzes des Marktführers EF. Dank dem grossen Gebäudefussabdruck konnten die bis zu 800 Arbeitsplätze auf nur drei Geschossen untergebracht werden. Über den früheren Börsenring – heute ein Lichthof mit Namen «The Exchange» – stehen die Mitarbeitenden zudem eng miteinander in Verbindung. Schulbetrieb ist im Gebäude nicht vorgesehen und – mit Ausnahme einer Kundenberatung im Erdgeschoss – auch keine publikumswirksamen Nutzungen.

Die strukturellen Eingriffe verfolgen im Wesentlichen drei Ziele: Verbesserte Kommunikation, Orientierung und Lichtverhältnisse. Die vielen dunklen Winkel, die es auszuleuchten galt, bezeichnet Fiona Kennedy von EF dabei als grösste gestalterische Herausforderung. Als Chefdesignerin betreut sie weltweit alle Projekte des Unternehmens – derzeit 35 an der Zahl. Zur Unterstützung sucht sich EF vor Ort zuweilen einen «lokalen, ausführenden Architekten», so auch in Zürich. «Corporate Architecture Guidelines» gibt es dabei nicht, lieber spricht Kennedy von «Contextual Design». Ähnlich ihrer Kundschaft, wolle die Schule die Kultur jedes ihrer Standorte erfahren.

Hybride Gestaltung und Gegenwelten

Die gestalterischen Massnahmen des zuständigen Zürcher Büros Stücheli Architekten konzentrieren sich auftragsentsprechend auf wenige Eingriffe, die jedoch eine starke Präsenz entfalten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es ihnen gelingt, die tatsächlich vorhandenen Qualitäten des Ursprungsgebäudes herauszuschälen. 

Neu sind die Innenfassaden zum ehemaligen Börsensaal alle verglast und über 18 neue Oberlichter wird dieser überhaupt erst zum Lichthof gemacht. In diesem zentralen Begegnungsraum stehen nun zwei skulpturale Treppen, welche vom Unter- bis zweite Obergeschoss führen und diese unmittelbar miteinander verbinden. Der kreisrunde Einschnitt beim Eingang – zuvor ein düsteres Atrium im Untergeschoss – wurde durch Entfernung des Glasdachs zum grünen Aussenraum gemacht. Vor allem aber ist die imposante Kassettendecke freigelegt worden, die Stützenfreiheit im ehemaligen Börsensaal ermöglichen musste und gleichzeitig die Lasten der darüber liegenden Geschosse abfängt. Die weiteren architektonischen Eingriffe im Innenraum scheinen sich vor dieser hohen Ingenieurbaukunst zu verneigen. Indem neue Aussparungen, etwa für die Wendeltreppen, sägeroh belassen wurden, wird ihr, für Zürcher Verhältnisse wohltuend, brutalistisches Erscheinungsbild zusätzlich betont. Dieser «harten» Struktur wollte Kennedy mit der Innenraumgestaltung etwas entgegensetzen. Bewerkstelligt wird das mit viel Holz, weichen Möbeln (von über 50 unterschiedlichen Herstellern) und dem vielfältigen, aber dezenten Einsatz von Farbe. Die geteilte Autorenschaft bleibt im Ergebnis als Hybrid ablesbar. Aus dem Zusammentreffen der beiden Welten entsteht aber kein diffuses Gemisch, sondern rohe Struktur und glattes Design bleiben separiert und schöpfen aus der kontrastreichen Gegenüberstellung viel Kraft.

Abgerundet wird die introvertierte Innenwelt durch eine rund 2000 Quadratmeter grosse, vielfältig nutzbare Dachterrasse. Die Gestaltung von Balliana Schubert Landschaftsarchitekten sucht die Nähe zum Alten Botanischen Garten und soll nicht als Terrasse, sondern als Garten wahrgenommen werden. Wie bei einem Bühnenbild soll die Vegetation den Raum staffeln und den Blick mal in die Weite, mal in die Nähe lenken. Rund vierzig verschiedene Pflanzenarten begleiten durch den Wandel der Jahreszeiten. Neben grösseren schirmförmigen Bäumen spenden im Sommer drei runde Pergolen Schatten. Die Gegenwelt zur Dachterrasse liegt im Untergeschoss. Im kreisrunden Atrium herrscht eine kühle, halbschattige Atmosphäre. Zwischen Rhododendren, Azaleen, Farnen und Gräsern stehen in kleinen Nischen Bistro-Tische und Stühle.

Aus dem düsteren Atrium wurde ein begrünter Aussenraum. Bild: Jürg Zimmermann, Zürich
Die neue Aussparungen wurden sägeroh belassen. Bild: Jürg Zimmermann, Zürich
52 Wertmesser von Fischli Weiss

Mit dem Erwerb des Gebäudes im Baurecht erhielt EF weit mehr als die Bausubstanz: Neben dem in die Fassade integrierten Kunstwerk von Max Matter und Ernst Häusermann, das Stadtpläne der Finanzhotspots Tokyo, London und New York zeigt, fielen der neuen Eigentümerin auch mobile Kunst-am-Bau-Werke zu. Für den Eingangsbereich konzipierte das gleiche Künstlerduo einen Steinkreis, der Steine aus fernen Ländern der jeweiligen Himmelsrichtungen vereint. Während EF für diesen, oder zumindest Teile davon, noch nach einem geeigneten Standort sucht, sind die für das Gebäude gesammelten 52 Objekte von Fischli Weiss fast alle wieder an ähnlichem Standort untergebracht. Dabei handelt es sich um Vitrinen, die Alltagsgegenstände aus den Erstellungsjahren der Börse enthalten und dem jeweiligen Stockwerk passend angeordnet sind, u.a. eine teure Flasche Wein auf der Geschäftsleitungsetage, Toilettenartikel für Männer im Broker-Bereich, eine E.T.-Figur und ein «Back-to-the-Future»-Video auf dem Bürolistengeschoss, ein Pneu in der Parkgarage etc.* Diese Objekte sollten mit dem Gebäude altern, so die Erklärung der Künstler (vgl. Peter Fischli, David Weiss, Wandgemälde «How to Work Better», 2016). Wie bei Wertpapieren würde erst die Zeit zeigen, was wertbeständig bleibt und was nicht.

Und wie steht es um den Wert der neuen Börse selbst? Während sich im Inneren viel zum Besseren geändert hat, ist sie von aussen abweisend wie eh und je. Mit erklärtem Hauptfokus der neuen Eigentümerin auf das «Wohlsein der EF Belegschaft» bleibt sie auch in ihrer Nutzung weitgehend privat. Das Bild eines gepanzerten Kreuzfahrtschiffs voller Expats liegt nahe. Vom Gym über den Garten zur Küche enthält es alles, was das Herz begehrt. Weshalb also sich dem Seewind aussetzen? Dieser Schlussfolgerung widerspricht Fiona Kennedy: Nahrungsmittel gebe es im Gebäude nicht, nur eine Küche für deren Aufbereitung. EF fördere explizit, dass die Kolleg*innen sich ins Quartier hinausbegeben. Wenn mehrere hundert Leute mittags und abends in die Stadt ausschwärmen bleibt das nicht ohne Effekt auf diese, und das nicht nur im wirtschaftlichen Sinne.

Epilog: Voodoo

In die tiefst liegende Vitrine des Gebäudes haben Fischli Weiss eine Voodoo-Puppe gesetzt. In ihrem Bauch befinden sich Währungen aus aller Herren Länder. Zu Füssen des Lüftungsschachts positioniert, ist sie für nahezu niemand sichtbar, doch strömt alle Luft an ihr vorbei. Weshalb der Panzer dieses Gebäudes bis heute nicht aufgebrochen wurde, liegt wohl näher als man meinen möchte. Für die Börsennutzung schien den Architekten Suter+Suter ein Panzer angemessen. Um diesen abzulegen, bräuchte es nicht nur Ideen, sondern eben auch die entsprechende Investition.

Situationsplan. Bild: Stücheli Architekten
Grundriss Untergeschoss. Bild: Stücheli Architekten
Grundriss Erdgeschoss. Bild: Stücheli Architekten
Grundriss erstes Obergeschoss. Bild: Stücheli Architekten
Grundriss zweites Obergeschoss mit Dachgarten. Bild: Stücheli Architekten
Schnitt A. Bild: Stücheli Architekten
Schnitt B. Bild: Stücheli Architekten

* Zwei der Vitrinen blieben bis heute verschollen. Sie beinhalten zwei Fastnachtsmasken und Rasierutensilien für Männer. Hinweise nehmen wir unter [email protected] gerne entgegen.

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