London: brutal und radikal

Susanna Koeberle
18. Januar 2019
Der Bau des Barbican Estates im Zentrum von London dauerte 12 Jahre.Bild: sk

Brutalismus ist mittlerweile ein Allerweltswort. Sogar in die Feuilletons hat dieser Architekturstil Eingang gefunden. Lange verpönt und als hässlich verschrien haben verschiedene Bildbände und Ausstellungen in den letzten Jahren die Schönheit dieser Betonmonster (wie sie eine Schau im Deutschen Architekturmuseum letztes Jahr nannte) enthüllt oder wiederentdecken lassen. Eines der schönsten und eindrücklichsten Beispiele ist das Barbican Estate im Zentrum von London. Die Gegend war durch die Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe während des 2. Weltkrieges fast vollständig zerstört worden. Das damals noch junge Büro Chamberlin, Powell & Bon gewann in den 50er-Jahren mit seinem Entwurf  einen geladenen Wettbewerb der Stadt London. Erst 1959 bekamen die Architekten für ihren komplexen Vorschlag (quasi eine Stadt in der Stadt) grünes Licht. Die Bauarbeiten starteten 1963 und dauerten 12 Jahre. Zum Gebäudekomplex gehören neben Wohnungen auch zwei Schulen und ein Kulturzentrum. Das Barbican Centrer umfasst ein Theater, eine Konzerthalle, eine Kunstgalerie, Kinos, Schulen, eine öffentliche Bibliothek sowie Cafés. Die drei Türme des Barbican Estates gehörten lange zu den höchsten Wohnhochhäusern Europas. Diese gruppieren sich um einen mittleren «See» sowie um 13 tiefere, siebengeschossige Bauten. Die Wohnungen haben unterschiedliche Typologien (von Studio bis Maisonette) und sind mittlerweile beliebte Wohnobjekte, die auch ihren Preis haben.

Die drei Türme des Barbican gehörten lange zu den höchsten Wohntürmen Europas. Bild: sk

Der Besuch einer aktuellen Ausstellung im Barbican Center (sehr zu empfehlen: «Modern Couples») gab Anlass, den weitläufigen Komplex zu erkunden. Die mittlere, grosse Terrasse strahlt dank dem Wasser eine ruhige Atmosphäre aus und lädt zum Verweilen ein. Die unterschiedlichen Ebenen ergeben eine spannende Topographie, die wie eine Landschaft wirkt. Das ist zwar schön, kann aber auch verwirrend sein, wenn man den Komplex zum ersten Mal (oder in meinem Fall nach 30 Jahren wieder) besucht. Dank einer Signaletik, die im Rahmen eine Renovation zum 25-Jahre-Jubiläum des Barbican realisiert wurde,  findet man aber wieder aus dieser Ministadt heraus.

Der Titel der Arbeit von Tania Bruguera ist eine Zahl, die sich konstant ändert. Bild: sk

Vom Barbican ist man in zwanzig Minuten zu Fuss an der Themse. Die Tate Modern ist weltweit eines der spannendsten Museen für moderne und zeitgenössische Kunst. Sowohl, was den Bau betrifft (ein grossartiges Umbauprojekt von Herzog & de Meuron), wie auch bezüglich seiner Nutzung. Das ehemalige Kraftwerk (ein Bau von Giles Gilbert Scott) wurde im Jahr 2000 als Museum eröffnet (2016 folgte die Eröffnung des Erweiterungsbaus) und verzeichnet seither einen stetigen Zuschauerzuwachs. Wie auch im Barbican stellt sich das Gefühl eines eigenen Universums ein. Von der Schulklasse bis zu Senioren, von Kunstinteressierten bis zu zufälligen Besuchern: Das Museum wird auch als öffentlicher Begegnungsort genutzt. Auch die aktuelle Installation in der Turbine Hall nimmt das Thema Partizipation auf. Die kubanische Künstlerin und Aktivistin Tania Bruguera setzt sich mit «der Rolle von Emotionen in der Politik» auseinander. Ihre Hauptanliegen sind institutionelle Macht, Grenzen und Migration. Sie hat in der Halle ein Kunstwerk geschaffen, das auf verschiedenen Ebenen funktioniert. Sowohl über eine unmittelbare Wirkung für und durch die Besucherinnen und Besucher, die das Bild auf dem Boden (das riesige Portrait eines syrischen Flüchtlings) der Halle erst über Wärme zum Vorschein bringen, als auch durch ihre Zusammenarbeit mit Menschen, die in unmittelbarer Nähe des Museums wohnen. Die Gruppe «Tate Neighbours» soll herausfinden, wie sich das Museum an die Anwohner anpassen und von ihnen lernen kann. Das Kollektiv beschloss unter anderem, das Boiler House der Tate Modern neu zu benennen. Und zwar nach der lokalen Aktivistin Natalie Bell. Mit ihrer Arbeit lässt Tania Brugera die Zuschauer selber zu Aktivisten mutieren. «Die Halle sieht so aus, als ob keine Intervention da wäre. Ich will zeigen, dass in der Gesellschaft Dinge nur geschehen, wenn die Menschen intervenieren», sagt sie.
 

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