Neue japanische Architektur – das S AM zeigt mit «Make Do With Now» Arbeiten im Westen noch unbekannter Büros

Ulf Meyer
16. November 2022
Nori Architects haben die Niederlassung der Asanuma Corporation in Nagoya gestaltet. Die Architekten entfernten die Glasfassade des Geschäftshauses aus den 1990er-Jahren und ersetzten sie durch eine Wand aus Holzbauteilen und Lehm mit vielen Pflanzen. Das 2021 vollendete Projekt ist eines der grössten in der Schau, die meisten der gezeigten Eingriffe sind viel kleiner. (Foto: Jumpei Suzuki)

Eine Ausstellung über zeitgenössische japanische Architektur, wie sie derzeit im Schweizer Architekturmuseum S AM in Basel zu sehen ist, die kaum visuell attraktive Werke zeigt, überrascht. Die Schau «Make Do With Now» will «neue Wege in der japanischen Architektur» zeigen und verzichtet dabei vollständig auf die weltweit hochgeschätzte Ästhetik der Architektur, des Handwerks und der Kunst Japans. Sie zeichnet vielmehr ein radikales Bild vom Land der aufgehenden Sonne, das noch immer unter dem Eindruck des Reaktorunglücks von Fukushima steht und mit den Folgen der rapiden Alterung seiner Bevölkerung kämpft – besonders auf dem Land. Der welkende Gebäudebestand in den Wohnvierteln an den Peripherien der Metropolen, den die Babyboomer-Generation hinterlässt, wird allerorts abgerissen. Die in den Bauten enthaltene graue Energie zu verlieren, ist angesichts der Ressourcenknappheit und der Klimakrise jedoch verschwenderisch.

Das Kulturzentrum «Chidori Bunka» in Osaka von dot architects wurde 2019 fertiggestellt. Während viele Büros in der Schau «Make Do With Now» völlige Neuentdeckungen sind, waren Arbeiten von dot architects bereits 2016 an der Architekturbiennale von Venedig zu sehen. (Foto: Yoshiro Masuda)
Ein Lichttisch entworfen vom Büro 403architecture [dajiba], das im Westen ebenfalls von der Architekturbiennale des Jahres 2016 zumindest einigen bekannt ist. (Foto: Go Itami)
Kleine Umbauprojekte rücken ins Rampenlicht

Mehrere junge «Boutique-Büros», wie in Japan Architekturbüros genannt werden, die nicht Teil grosser Baukonzerne sind, haben sich dieser Themen angenommen. Die an der Ausstellung im S AM beteiligten Architekturbüros sind im Westen kaum oder gar nicht bekannt. Es sind Klein- und Kleinstbüros, deren Inhaber erste kleine Umbauprojekte nutzen, um ihre gestalterischen Ideen zu testen. Über die Werke dieser Berufsanfänger und ihre Mini-Aufträge war bisher ausserhalb Japans nur im Rahmen der Architekturbiennale von Venedig etwas zu erfahren: Im Jahr 2016 wurden die Büros dot architects und 403architecture [dajiba] im japanischen Pavillon bereits vorgestellt.

Yuma Shinohara, der Kurator der Schau, erläutert im Gespräch mit uns, dass die neue Generation von Architekten in Japan «sich nicht nur mit vorgefundenen Materialien und Räumen behilft», sondern sich dabei auch vom Bild des Architekten als alleiniger Autor eines Gebäudes abwenden will. Stattdessen möchten die jungen Gestalter mit ihren Bauherren, den Nutzern, Nachbarn und Handwerkern «Kollektive» gründen, welche die Umbauten gemeinsam leisten und teils auch betreiben. Die präsentierten Gebäude «jenseits des Wachstumsparadigmas» haben oft raue Ecken und Kanten. Shinohara sagt, sie würden eine Verbindung mit allem suchen, was sie umgibt und bewohnt.

Ein Reaktorunfall als architekturgeschichtlicher Einschnitt

Für den Architekturhistoriker Kōji Ichikawa war das Unglück von Fukushima im Jahr 2011 eine Zäsur, die Entwerfern in Japan die Fragilität der Baukunst bewusst gemacht habe, wie er in seinem Essay im die Ausstellung begleitenden Katalog schreibt. Angesichts der Zunahme an leerstehenden Häusern und der abnehmenden Bevölkerung sind Renovierungen für ihn die geeignete Reaktion. Bauen im Bestand, die Wiederverwendung von Baumaterialien und Partizipation sind freilich keine neuen Themen im Architekturdiskurs und werden auch in Europa aktuell breit diskutiert. Doch in Japan hat eine junge Generation einen eigenen Zugang gefunden. Der Begriff Mottainai, der «Verschwendung von Zeit und Gütern» zum Ausdruck bringt, stammt ebenso wie die Idee des Ephemeren aus dem Zen-Buddhismus.

«Gestalterische Kraft entsteht, sobald uns bewusst wird, dass das, was wir haben, schon mehr als genug ist», so Ichikawa – von dieser gestalterischen Kraft ist in der Ausstellung allerdings wenig zu spüren. Die zwanzig Projekte aus den letzten fünf Jahren, die in Basel vorgestellt werden, kreisen teils lediglich um die Aufstellung einer Tischtennisplatte und deren sozio-ökonomische Bedeutung oder es sind reine Innenarchitekturen. Eine erfreuliche Ausnahme ist das «Good Cycle Building» von Nori Architects, das 2021 in Nagoya fertiggestellt wurde. Die Architekten haben einem austauschbaren und mittlerweile dreissig Jahre alten Geschäftshaus die Glasfassade entfernt und sie mit einer Wand aus Vegetation, Lehm- und Holzbauteilen ersetzt. Die neue Hülle wirkt wie eine Engawa, gebaut aus Sugi (Zeder) aus dem Yoshino-Wald in Nara umgibt sie mit ihren Balkonen die Büroetagen. Exemplarische Bedeutung bekommt der Umbau, weil der Bauherr, die Asanuma Corporation, ein Bauunternehmen ist, das noch viele Bürohäuser sanieren will und wird. Die Nutzer haben die Lehmwand selbst verputzt. Sie sammelten auch alle Holzreste, die für Möbel wiederverwendet wurden. Für Norihisa Kawashima ist sein Gebäude ein «Schlüsselelement des neuen Materialflusses in der Stadt, der Architektur in einen Kreislauf stellt, der gut für Mensch und Erde ist, in dem reizvolle Arbeitsumgebungen geschaffen werden, die mit der Natur, Licht, Wind und Pflanzen verbunden sind».

Umbau eines Hauses zu einem Büro von CHAr (Foto: Go Itami)
Eine Modifikation mit einfachen Mitteln von dot architects; bei vielen der gezeigten Projekte handelt es sich um sehr kleine Eingriffe. (Foto: Go Itami)
Mio Tsuneyama und Fuminori Nousaku haben beim Projekt «Holes in the House» Löcher in die Betondecken eines Bestandsbaus in Tokyo geschnitten. Sie bewohnen das Haus bereits und bauen es Stück für Stück weiter um. Die Architektur bleibt also bis zu einem gewissen Punkt stets unvollendet. Projekte wie dieses brechen mit unseren bisherigen Erwartungen an japanische Architektur. Sie bekannt zu machen, ist die Leistung der Schau im S AM. (Foto: Ryogo Utatsu)
Ewig unvollendete Architektur statt Perfektion

Zu den in Basel vorgestellten Architekturbüros beziehungsweise Architekturschaffenden gehören auch Mio Tsuneyama und Fuminori Nousaku. Sie leben und arbeiten in einem günstig erworbenen Bestandsbau in Tokyo, den sie Schritt für Schritt modernisieren. Für das «Holes in the House»-Projekt haben sie Löcher in die Betonplatten jeder der vier Etagen geschnitten und die Innenräume entkernt. Nun modernisieren sie das Haus peu à peu, während sie es schon bewohnen. «Diese ewig unvollendete Architektur ist mit dem Leben verwoben», sagt Mio Tsuneyama. In an Comics erinnernden Architekturzeichnungen halten die beiden Gestalter ihre Ideen fest, die sich ganz um Austausch, Re-use und Kreisläufe drehen. Ihr Haus sei in einer «permanenten Evolution» begriffen, erklären die Architekten.

Zum Porträt dieser Generation japanischer Architekten gehört es laut S AM auch, dass die Gestalter nicht länger auf Aufträge warten, sondern selbst aktiv werden. Ihre Non-Architektur, die sonst in europäischen Museen nicht zu sehen ist und einem vertrauten Bild von japanischer Architektur beziehungsweise einer westlichen Erwartungshaltung nicht entspricht, dem hiesigen Publikum vorzustellen, ist die Leistung der Ausstellung «Make Do With Now». Sie öffnet die Augen für Neues und wird den Diskurs über japanische Architektur sowie über das Um- und Weiterbauen beleben.

Make Do With Now: New Directions In Japanese Architecture

Make Do With Now: New Directions In Japanese Architecture
S AM Schweizerisches Architekturmuseum, Yuma Shinohara und Andreas Ruby (Hrsg.)

200 x 265 Millimeter
320 Seiten
514 Illustrationen
ISBN 9783856169770
Christoph Merian Verlag
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