«Schweizweit» in Basel

Jenny Keller
21. November 2016
Auf dem Leuchtpult: Zweifamilienhaus von Staehelin Meyer Architekten in Riehen (2014). Bild: jk

Der neue Direktor des S AM hat hat über 170 Architektinnen und Architekten anlässlich der Vernissage von «Schweizweit» in sein Haus holen können, darunter sicher solche, die sich wohl beim Namen kannten, aber einander nie begegnet sind. Die erste Ausstellung unter der Leitung von Andreas Ruby spiegelt seine Vision für das S AM wider: Das Museum soll zukünftig schwellenlos, zeitgenössisch, kollaborativ und eben schweizweit sein. In Zusammenarbeit mit 162 Architekturbüros aus allen Landesteilen hat das S AM einen «visuellen Atlas der aktuellen Schweizer Bauproduktion» erstellt und zeigt diesen nun in Basel.

Im schmalen Eingangsraum stehen zwei Leuchttische aus Holz, auf denen sind Bildern von Projekten zu sehen, die Bezeichnung, Autor(en), Ort, Jahr und Fotograf sind darunter angegeben. Wandfüllende Projektionen wechseln in den folgenden, verdunkelten Haupträumen einander ab, man sieht Bauten nebeneinander, im vorderen Raum sind es vier, im hinteren zwei, denen man zuvor keine Gemeinsamkeit attestiert hätte, die man aber auch schon auf den grossen Leuchttischen gesehen hat. Bezeichnungen fehlen dieses Mal. Im letzten Raum mit Blick auf den Tinguely-Brunnen und das Theater Basel hängen an einem Rechteck wie in einem anachronistischen Fotografenatelier zum Trocknen weitere Bilder von Bauwerken, Landschaften, Gesteins- oder Holzformationen. Autorenangaben und Bezeichnung sind wieder zu finden. Beim Zurückgehen entdeckt man dann in jedem Raum grossformatige Fragen, die in vier Sprachen an den Wänden angebracht sind. Es ist also Zeit, mehr über die Idee hinter der Ausstellung «Schweizweit» zu erfahren:
 

Kein Namedropping im Hauptraum. Bild: jk

Drei Fragen
Wir leiden unter «kulturellem Jetlag» diagnostiziert Andreas Ruby: Durch eine unglaublich erfolgreiche Phase in der Schweizer Architektur in den 1990er-Jahren sei «die Schweizer Architektur» zum Vorzeigebeispiel des Minimalismus avanciert. Das reduzierte, erhabene und nicht ganz günstige Bauen wurde in der Schweiz mit Perfektionismus auf hohem Niveau betrieben und die ganze Welt bewunderte Bauten von Herzog & de Meuron, Diener & Diener, Peter Zumthor, Peter Märkli oder Miller & Maranta. Doch immer noch stehen diese Deutschschweizer Protagonisten – zumindest im Ausland– für «die Schweizer Architektur», die es frei nach Ben Vautier («la Suisse n’existe pas») doch gar nicht gebe. Vielmehr prägten jüngere Protagonisten die Schweizerische Baulandschaft, mit unterschiedlichen Architekturen und Architekturauffassungen. In der Schweiz baue man ausserdem sehr jung und sehr viel. Anderenorts sei man um die dreissig in der Lehre tätig oder man betreue Publikationen, in der Schweiz können eine Publikation mit genau diesem Titel («Um dreissig», werk, bauen und wohnen) erscheinen, die Bauten dieser Generation versammelt. Und weil die Architekten in der Schweiz so viel bauen, sei keine Zeit für die Selbstvermarktung übrig, die, so lehrte es die ältere Generation, man ja auch nicht nötig hat.

So sollte die erste Schau im S AM ein Lehr- und Recherchestück ohne These für das Museum unter Andreas Ruby werden, um zu erfahren, wer heute in der Schweiz baut und was diesen Protagonisten wichtig ist. Ein Brief an 300 Büros mit drei Fragen wurde verschickt,  diese lauteten:
 

  • Welches Deiner Projekte findest Du für die aktuelle Architekturproduktion in der Schweiz am Relevantesten?
  • Welches aktuelle Projekt eines anderen Architekten findest Du dafür wegweisend?
  • Welches vernakuläre Gebäude oder räumliche Situation findest Du inspirierend für Deine Architekturauffassung?

Die Ausstellung soll mithilfe von Co-Autorinnen und Co-Autoren aus der Szene die gebaute Realität aufzeigen, quasi eine Momentaufnahme 2016 darstellen. Die eingereichten Projekte mussten nicht unbedingt verwirklicht sein, und es war nur ein Bild davon abzugeben. Die letzte Frage schien die schwierigste zu sein, das Wort «vernacular», das es im Deutschsprachigen Raum nicht gibt, ist nur geliehen, weil es keine hinreichende Übersetzung dafür gibt: Es geht um namenlose Architektur ohne Autor, und Andreas Ruby will damit im Hinblick auf die Zukunft des S AM unter seiner Leitung ein Verständnis dafür entwickeln, dass gebaute Umwelt nicht nur aus Architekten-Architektur besteht.

Im letzten Raum wird die dritte Frage beantwortet. Bild: jk

Viele Bilder
Auf diesen Brief gab es von denen, die ihre Teilnahme zusicherten, das waren immerhin 162 Büros, viele Reaktionen. Ein Teil der E-Mails ist als Making-of im ersten Raum der Ausstellung bei den Leuchttischen zu sehen. Als weitere Massnahme werden im S AM Blind Dates stattfinden, bei denen in vier Podiumsdiskussionen Architekturbüros aus verschiedenen Regionen aufeinandertreffen und ihren Beitrag zur Ausstellung vorstellen, gefolgt von einer Diskussion.
 
Während die Projektionen bewusst überfordern, so die Kuratoren, und man sich durch die Bilder (es stellt sich die Frage: Kann ein einziges Bild eine Antwort auf eine solche Frage geben?) eine eigene Meinung bilden soll, ist der Katalog zur Ausstellung aufschlussreich: Dem über 300 Seiten dickem Buch sieht man Rubys Vergangenheit als Verlagsgründer und –Inhaber an: Er erklärt, dass der Titel so über das Cover gelegt wurde, dass man die räumliche Dimension des Themas schon von aussen dem Buch ansehe; im Innern zeugt dann die Schweizer Broschur von Kenntnis und Ironie, und nach den drei einleitenden Fragen, die in Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch gestellt werden, beginnt es ohne Schmutztitel mit den drei ausgewählten Bildern und Erklärungen der beteiligten Büros zu eben diesen Fragen. Andreas Ruby selbst kommt nur in einem kurzen Essay am Ende des Buches zu Wort, und ein Index mit den beteiligten und nominierten Büros könnte als Rating fungieren. Aber eben, um das Namedropping geht es in der Ausstellung bewusst nicht, vielmehr um das Kennenlernen der Anderen. Für Andreas Ruby hat das funktioniert, ihn kennt man seit der Recherche und der Vernissage nun persönlich in der Szene.


  SCHWEIZWEIT
Architecture récente en Suisse / Architettura recente in Svizzera / Recent architecture in Switzerland

Christoph Merian Verlag
S AM Schweizerisches Architekturmuseum
Andreas Ruby, Viviane Ehrensberger, Stéphanie Savio (Hg.)
 
336 Seiten, 486 meist farbige Abbildungen, broschiert, 
17 x 24 cm
Englisch, teilweise Deutsch/Französisch/Italienisch
ISBN 978-3-85616-814-8
CHF 42.00

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