Wunsch und Wirklichkeit
Eine funktionierende Kreislaufwirtschaft im Bauwesen aufzubauen, ist ein großes und wichtiges Ziel. Die Schweiz kann in diesem Bereich bereits Pionierprojekte vorweisen. Doch wie steht es abseits dieser Bauten um die Wiederverwendung gebrauchter Bauteile? Darüber wurde an einer Tagung in Wildegg diskutiert.
Das Unternehmen TFB ist ein Spezialist für Beton und Zement. Die Firma mit Sitz in Wildegg im Kanton Aargau forscht und berät in Sachen Betonbau. Für die Wissensvermittlung besitzt sie ein eigenes Seminarzentrum mit Auditorium. Die dort veranstalteten Kurse aus der Serie Bauen und Wissen gehen über das Thema Beton weit hinaus. Konzipiert sind sie vor allem für Expertinnen und Experten, die in Architektur- und Planungsbüros oder direkt auf der Baustelle arbeiten. Umso gespannter durfte man auf den Tageskurs »Zirkuläre Bauwirtschaft – Jetzt und in der Zukunft« sein, der am 13. Februar stattfand. Es ist ein gutes Zeichen, dass Re-Use, also die Wiederverwendung von gebrauchten Bauteilen, auch außerhalb von Hochschulen und Forschungseinrichtungen ein großes Thema ist und lebhaft diskutiert wird.
Das erste Referat hielt die Architekturhistorikerin Adeline Zumstein von ARCHEOS, einem Historiker-Trio, das Kulturgeschichte vermittelt. Sie erinnerte daran, dass die Wiederverwendung von Bauteilen bis zur Industrialisierung stets eine Selbstverständlichkeit war. Aus ihrer Sicht sollte das Bauen von vier Leitgedanken geprägt sein: der richtigen Standortwahl, der Verwendung lokaler Ressourcen, der kreativen Gestaltung flexibler Räume und schließlich der völligen Vermeidung von Abfall. Als Beispiel aus der Geschichte projizierte sie das Foto eines historischen Walliserhauses auf die Leinwand; über einem Sockel aus Naturstein sind Räume in Blockbauweise errichtet. Solche Holzkonstruktionen, meinte die Historikerin, seien in der Vergangenheit »Fahrhabe« gewesen und ihre leichte Demontierbarkeit darum eine Selbstverständlichkeit. Ein historisches Beispiel für die Vermeidung von Abfall sind für sie unterdessen die Fugen des Berner Münsters. Diese bestehen aus »Kugelblei«, das nach Schießereien eingesammelt wurde. Für Adeline Zumstein sind beide Bauten Beispiele für Vernunftentscheidungen der vorindustriellen Zeit. Ob wohl nicht doch eher die Volksweisheit »Not macht erfinderisch« dahinterstand? Materialien wie Metalle waren früher sehr kostbar und die Menschen gingen entsprechend ökonomisch mit ihnen um. Wegzuwerfen, was noch genutzt werden kann, wäre ihnen niemals in den Sinn gekommen.
Beim zweiten Referat stand der große Hemmschuh für das zirkuläre Bauen im Fokus: Unser Umgang mit Risiken beziehungsweise unsere Null-Risiko-Gesellschaft. Die allgegenwärtige Angst vor Haftung und Schadensersatzansprüchen bremst die Kreislaufwirtschaft bisweilen aus. So meinte Roger Waeber, der die Fachstelle Wohngifte beim Bundesamt für Gesundheit leitet, zur Wiederverwendung von gebrauchten Bauteilen, problembehaftet sei schon deren Demontage aus Altbauten: »Die Hauptproblematik ist das Freisetzen von schädlichen Stoffen.« Asbest, Polychlorierte Biphenyle, kurz PCB, die früher als Fugendichtungsmasse eingesetzt wurden, und Teeröle erfordern große Vorsicht. Die gesetzlichen Grundlagen zur Haftung seien diesbezüglich im deutschsprachigen Raum noch dürftig. »Wir brauchen 80-20-Ansätze«, forderte Roger Waeber, »sonst ist die Kreislaufwirtschaft gestorben.« Ein Restrisiko sei nicht auszuschließen, hier brauche es Transparenz.
Dem Potenzial einer Wiederverwendung tragender Bauelemente aus Stahl, Holz und Beton waren die folgenden Präsentationen gewidmet. Der Bauingenieur Dr. Roland Bärtschi sprach über Stahl und Beton, sein Kollege Gunther Ratsch, der für den Branchenverband Lignum arbeitet, über Holz. Bei Bauteilen aus Stahl stellt sich vor allem die Grundsatzfrage: Recycling oder Re-Use? Statisch wirksame Elemente müssen zunächst auf plastische Verformungen und Ermüdung überprüft werden. Bei Schrauben etwa gelte: Einmal angezogen – fertig! Sie werden bei der Montage plastisch verformt und können nicht ohne Weiteres wiederverwendet werden. Zur Sprache kam auch die Lagerung gebrauchter statischer Bauteile. Stahl eigne sich weniger für den Vertrieb über Bauteilbörsen, so Bärtschi. Hier müsste stattdessen der Stahlhandel aktiv werden, doch es gebe noch Widerstände.
Bei der Aufbereitung von tragenden Holzbauteilen sei man noch nicht so weit wie bei solchen aus Stahl, sagte Ratsch. Trotzdem gibt es bereits Neubauten, deren Tragwerke aus gebrauchten Holzteilen bestehen. Das Hauptproblem sei auch hier die Logistik. Gut möglich ist aus Sicht der beiden Experten unterdessen die Wiederverwendung von Betonbauteilen. Am besten eignen sich Fertigteile etwa aus dem Beton-Tafelbau, die in großen Stückzahlen zur Verfügung stehen. Die Menge der verfügbaren Bauteile bestimme dabei darüber, ob eine Wiederverwendung wirtschaftlich lohnenswert und attraktiv sei.
Über die aktuelle Lage beim Betonrecycling berichtete Daniel Eberhard, dessen Firma Eberhard Unternehmungen unter anderem auf das Recycling und die Entsorgung von Baumaterialien spezialisiert ist. Aktuell werde weniger als ein Prozent des Rückbau-Volumens wiederverwendet. »Ökologie braucht eine verlässliche Währung«, so Eberhard. Zu diesem Wertesystem gehören für ihn eine einfache Qualitätsprüfung, ausreichend Lagerflächen, aber auch Kreativität und Pragmatismus.
Im zweiten Teil der Tagung standen Bilanzierungsfragen und Erfahrungen aus der Baupraxis im Fokus. Remo Thalman vom Büro ZPF Ingenieure sprach über die Ökobilanzierung bei Re-Use-Projekten. Als Messwert dient dabei das Kilogramm-Kohlenstoffdioxid-Äquivalent pro Quadratmeter und Jahr (kg CO2-eq/m2/a), das landläufig auch als CO2-Äquivalent bezeichnet wird. Dank dieses Werts sollen sich Konstruktionen aus gebrauchten Teilen mit solchen aus neuen Bauelementen vergleichen lassen. Thalmann veranschaulichte dies anhand des Öko-Bürogebäudes Hortus in Allschwil von Herzog & de Meuron. Allerdings gilt es für eine wirklich aussagekräftige Ökobilanzierung einiges zu beachten: Der Vergleich muss immer phasengerecht erfolgen, und es dürfen einander stets nur Bauteile mit sehr ähnlichen Anforderungen gegenübergestellt werden.
Oliver Kirschbaum sprach über EcoTool, ein kostenloses Werkzeug zur Ökobilanzierung, das von einem Spin-off des Büros ZPF Ingenieure gemeinsam mit Immobilien Basel-Stadt, also der Stelle für Immobilienmanagement der Stadt am Rheinknie, entwickelt wurde. Für die Bewertung von Re-Use-Projekten rechnet das Tool einen Re-Use-Faktor ein und führt für alle grundsätzlich wiederverwendbaren Materialien eine Beispielrechnung durch.
In den abschließenden Vorträgen sprachen Expertinnen und Experten über ihre Motivation und ihre Erfahrungen mit gebrauchten Bauteilen. Der Architekt Semjon Nicola Fehr hatte ein Sanierungsprojekt im Berner Jura im Gepäck, das in enger Abstimmung mit der Bauherrschaft, die sich aktiv beteiligte, geplant worden war. Ziel war es gewesen, lokale, nachwachsende Baumaterialien einzusetzen. So besteht die Innendämmung aus Dinkelspreu und der Boden aus Stampflehm. Alte Wandverkleidungen wurden geflickt und neu montiert. Das umweltfreundliche und umsichtige Vorgehen habe »einen enormen Mehraufwand« bedeutet, gab der Architekt zu. Um es dennoch zu ermöglichen, verzichtete er auf einen erheblichen Teil seines Honorars.
Die Ingenieurin Karin Hinkel und der Architekt Jacek Wieckowicz vertraten gemeinsam das Basler Planungsbüro Rapp. Das Team beschäftigt sich schon seit einiger Zeit mit der Wiederverwendung von Bauteilen und kennt alle Fallstricke und Probleme. Anhand des Museumsprojekts Primeo, dem Umbau des einstigen Felix-Platter-Spitals zur genossenschaftlichen Wohnanlage, und dem Wohnbauprojekt Walkeweg auf dem Gelände einer früheren Deponie sprachen die beiden über Hemmnisse und Chancen. Beim Museum des Energieanbieters Primeo war beispielsweise zunächst eine Fassadenkonstruktion aus alten Strommasten geplant. Sie ließ sich nicht umsetzen: »Kein Ingenieur wollte 30 Jahre alte Träger berechnen«, erinnerte sich Wieckowicz. »Ohne zertifiziertes Material war da nichts zu machen.« Die Träger wurden trotzdem verbaut: Als Rankhilfe sind sie vor die eigentliche Fassade montiert. In der anschließenden Diskussion kam der Vorwurf auf, die Kreislaufwirtschaft habe »Systemfeinde«, deren Businessplan durch sie in Gefahr gerate.
Der letzte Auftritt gehörte dem Architekten Andreas Haug von baubüro in situ. Er zeigte unter anderem ein weithin bekanntes Pionierprojekt: die Aufstockung der Halle K.118 am Lagerplatz in Winterthur. Dabei wurde klar, dass es auf die richtigen Partner ankommt: Bauherrin des Projekts ist die Pensionskasse Stiftung Abendrot, die sich verpflichtet hat, Rentengelder ökologisch und sozial nachhaltig zu investieren. Ihre Auflage war lediglich, dass das Projekt nicht teurer werden darf, wie ein herkömmlicher Umbau der Industriehalle. Auch die Stadt Winterthur kam baurechtlich und bei den Bewilligungsverfahren entgegen, um das Vorzeigeprojekt zu ermöglichen, und das Projektteam konnte auf die Mithilfe der Architekturstudierenden der benachbarten ZHAW zählen.