Zwei Türme von Álvaro Siza

Eduard Kögel
2. Juni 2023
Álvaro Siza in der Lobby seines 611W56-Tower in Manhattan. In dem luxuriösen Wohnhochhaus, das Teil der Ausstellung «Two Towers» bei Aedes in Berlin ist, sind zahlreiche Räumlichkeiten für Sport und Freizeitgestaltung untergebracht. (Foto: © Slideshow)

Im Laufe seiner langen Karriere als Architekt hat Álvaro Siza neben vielen anderen Bauten auch eine ganze Reihe von Hochhäusern entworfen, von denen einige zur Ausführung kamen. Zwei seiner Türme werden nun in der von António Choupina kuratierten Ausstellung «Two Towers. 90 Years Álvaro Siza» bei Aedes in Berlin gezeigt. Sie erfüllen ganz unterschiedliche Funktionen und sind auch in ihrer Erscheinung Antipoden: In Manhattan steht ein zwischen 2014 und 2022 erbautes Hochhaus von 137 Metern Höhe. Der schlanke Bau ist ein luxuriöses Wohnhaus. Gegenübergestellt wird ihm ein zwischen 2018 und 2021 in Portugal errichteter Aussichts- und Wachturm, der 16 Meter hoch aufragt.

Die ersten Referenzen, die einem zu den beiden Türmen einfallen, sind bezüglich des Hochhauses in Manhattan die Beschreibung des Downtown Athletic Club im bekannten Buch «Delirious New York» von Rem Koolhaas und hinsichtlich des Wachturms der Roman «Gammler, Zen und hohe Berge» («The Dharma Bums») des Popliteraten Jack Kerouac, in dem er seinen Aufenthalt als Feuerbeobachter auf dem Desolation Peak im US-Bundesstaat Washington verarbeitet.

Der 611W56-Tower ist ein schlankes Wohnhochhaus in Manhattan. (Foto: © João Morgado)
Die Wohnungen im Inneren des 611W56-Tower sind luxuriös ausgestattet. Vielfach bietet sich ein beeindruckender Blick auf Manhattan. (Foto: © João Morgado)
Von Luxus und Selbstoptimierung – Sizas Wohnhochhaus in Manhattan

Der 37-geschossige Wohnturm in Manhattan ist das erste Gebäude von Siza in den Vereinigten Staaten. Er steht einen Block vom Hudson River entfernt zwischen dem Riverside Park South und dem Central Park, also an der Ecke West 56th Street und 11th Avenue. Das langgestreckte rechteckige Grundstück ist zum Bestandsbau an der 11th Avenue schräg angeschnitten. Deshalb verjüngt sich das Volumen in Richtung des Flusses, was den Turm in der Fernsicht deutlich schlanker erscheinen lässt. Zur 56th Street hin passt sich ein bis zu achtgeschossiger Gebäudeteil als Sockel geometrisch dem Grundstückszuschnitt an, aus dem sich etwas zurückgesetzt der eigentliche Turm emporschiebt. 

Sockel und Turm beherbergen insgesamt 80 Luxuswohnungen mit ein bis vier Zimmern sowie grössere Maisonetten. Zuoberst befindet sich ein zweigeschossiges Penthouse. Die gleichförmig gerasterte Fassade reflektiert den städtebaulichen Raster Manhattans und lässt keine Rückschlüsse auf die Wohneinheiten beziehungsweise die Funktionen im Inneren zu. Von den meisten Wohnungen hat man einen grandiosen Blick über die Flusslandschaft auf der einen und in die Strassenschluchten von Midtown auf der anderen Seite. 

Zu den allen Bewohnenden zugänglichen Angeboten gehören ein räumlich geschlossener Patio mit Garten im zweiten Obergeschoss, eine Lounge mit diskreter Catering-Küche, ein Spielzimmer für Kinder, ein Medienraum mit Billardtisch, ein Fitnesscenter, Dampfbäder, ein Yogastudio sowie ein Raum für Boxsport. Zusätzlich stehen 18 Parkplätze für PKW zur Verfügung. Die Zusatzfunktionen lassen erkennen, dass heute im hohen Preissegment des Wohnens auch die körperliche Fitness und die Selbstoptimierung eine wichtige Rolle spielen. Die mit Finesse minimalistisch gestaltete Innenausstattung aus edlen Materialien entwarfen die New Yorker Innenarchitekten Gabellini Sheppard. 

Das äussere Erscheinungsbild wird, wie schon angedeutet, stark durch den gleichförmigen Raster der Fensteröffnungen und die mit weissem Kalkstein verkleidete Fassade geprägt, die im städtebaulichen Umfeld trotz der vergleichsweise bescheidenen Höhe prägnant in Erscheinung tritt. Die Steinplatten sind in doppeltem Fischgrätenmuster angebracht. Bei Streiflicht lassen sie durch leichte Unregelmässigkeiten ein plastisches Relief entstehen. Die rückwärtige Fassade zum Innenbereich des Blocks ist fast vollständig mit den Kalksteinplatten geschlossen, die übergangslos auch die Technikräume als Abschluss des Turms umschliessen und damit dessen starke räumliche Präsenz unterstreichen. 

Aussichts- und Wachturm von Álvaro Siza im portugiesischen Proença-a-Nova (Foto: © João Morgado)
Der Bau befindet sich im UNESCO-Geopark Naturtejo. Die Gegend ist nur dünn besiedelt: Seit 1960 zogen über 10'000 Menschen fort. (Foto: © João Morgado)
Ein filigranes Bauwerk in grandioser Landschaft

Bescheiden nimmt sich neben dem Luxusturm im dichten Manhattan das zweite Projekt aus: ein Wach- und Aussichtsturm im UNESCO-Geopark Naturtejo zwischen Lissabon und Porto im schwach besiedelten Kreis Proença-a-Nova, dessen Einwohnerzahl seit 1960 von 17'000 auf 7000 gesunken ist und der deshalb nach Strategien sucht, um wieder mehr Bewohner*innen anzuziehen. 

Der 16 Meter hohe Turm steht 616 Meter über dem Meeresspiegel auf dem Gipfel der Bergkette Serra das Talhadas. Von dort lässt sich die weite Landschaft überblicken. Der Bau ist wichtig, um im heissen portugiesischen Sommer Waldbrände frühzeitig erkennen zu können. Zudem dient er als Wanderziel, von dem aus das schöne Bergpanorama betrachtet werden kann. 

An derselben Stelle stand bereits früher ein Turm, der jedoch ersetzt werden musste. Inspiriert von der Verankerung von dessen Betonfundament im Fels und beeindruckt davon, wie sich aus dieser die Eisenstruktur der Konstruktion abhob, entwickelte Siza den neuen Turm aus vier überhängenden Plattformen mit quadratischer Grundfläche, die über zwei parallele Treppensysteme als Rundweg erschlossen sind. Die Essenz des Vorgängerbauwerkes prägt also auch den neuen Entwurf. Drei Ebenen sind für die Besucher*innen offen, die oberste Plattform indes dient allein der Überwachung der Umgebung.

Gestützt auf vier Stahlstützen und mit den besagten auskragenden Plattformen aus Metall ist der Aussichts- und Wachturm ein filigranes Zeichen in der Landschaft, das selbst aus der Ferne nur zart in Erscheinung tritt. Bei der Gestaltung dieses Turms reduzierte Siza die Architektur auf das Nötigste, um den Auftritt der grandiosen Landschaft zu überlassen.

Skizze «Two Towers» (© Álvaro Siza)
Bis heute ist der Bleistift Sizas wichtigstes Werkzeug

Wie bei allen anderen Bauprojekten tastete sich Siza auch bei den beiden Türmen über viele Skizzen an die Aufgabe heran. Als überaus produktiver Zeichner denkt er mit dem Bleistift und schafft so Collagen, die den Diskurs und die Evolution der Projekte illustrieren. Siza nutzt das Skizzieren nicht nur als Arbeitsschritt, um eine Konzeption auszuloten, sondern auch als Kommentar zum eigenen Entwurfsgedanken und zu baugeschichtlichen Referenzen. In diesem Arbeitsprozess geben die faszinierenden Skizzen Anhaltspunkte zu seinem Verständnis der Aufgabe und des Kontextes sowie zu seiner Annäherung an die finale Form. Sie dokumentieren zudem seine Suche, das handwerkliche Umkreisen des Resultats, aber auch die Rekapitulation der gebauten und gedachten Projekte von Kolleg*innen, die in sehr dichten Skizzenblättern auch häufig Kommentare zum eigenen Tun enthalten. 

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, in dem Kurator António Choupina die Bedeutung von Türmen in Álvaro Sizas Werk erläutert. In kurzen Texten zu beiden Projekten gibt Siza selbst Einblick in sein Denken. Die beiden Turmprojekte sind in der Ausstellung mit den ausdrucksstarken Skizzen, grossen Fotografien und Modellen dargestellt. Dazu laufen Interviews auf Bildschirmen, und es sind elegante Möbel zu sehen, die Siza für den chinesischen Möbelhersteller und Aedes-Sponsor Camerich entworfen hat.

Álvaro Sizas architektonische Arbeiten waren von Anfang an zwischen den lokalen Rahmenbedingungen und der Auseinandersetzung mit globalen Themen angesiedelt. Die beiden in der Ausstellung gezeigten Türme reflektieren das auf exemplarische Weise: der eine in der Dichte Manhattans, wo es sich subtil gegen die mitunter banalen Bauten der Nachbarschaft abzusetzen galt, der andere in einer fragilen Naturlandschaft, die in Szene gesetzt wurde, ohne mit dem Bauwerk dominant in Erscheinung zu treten. Während der eine dem Hedonismus der Grossstadt eine Bühne bietet, setzt der andere auf die Naturerfahrung – Wind und Wetter bleiben bei ihm die bestimmenden Faktoren. Und so schliesst sich der Kreis zu Koolhaas’ «Delirious New York» und Kerouacs «Gammlern» auf den hohen Bergen.

Die Ausstellung «Two Towers. 90 Years Álvaro Siza» im Aedes Architekturforum (Christinenstrasse 18–19, 10119 Berlin) läuft noch bis zum 5. Juli dieses Jahres. Die Öffnungszeiten sind montags, sonn- und feiertags von 13 bis 17 Uhr sowie dienstags bis freitags von 11 bis 18.30 Uhr.

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