Auf die Kugel gekommen

Thomas Geuder
12. Dezember 2012
Im ZVE des Fraunhofer IAO werden aktuelle Fragestellungen und Ideen rund um den arbeitenden Menschen untersucht und komplexe Planungsprozesse in 3D visualisiert. (Foto: Bernd Müller / Fraunhofer IAO)

Der Kunststoffspreizdübel war sicherlich eine solche, wahrscheinlich auch die Glühbirne und in Zukunft ganz bestimmt auch die Cobiax-Kugel: Es gibt auf der Welt Ideen und Erfindungen, die so einfach wie einleuchtend sind, dass sie gleich, nachdem sie das Licht der Welt erblickt haben, in den allgemeinen Gebrauch übergehen. Als hätte es sie schon immer gegeben. Oder hätten Sie gewusst, wann genau der Dübel erfunden wurde? Noch vor dem Krieg oder bereits im 19. Jahrhundert? Otto Normalhandwerker jedenfalls hat es nicht gewusst, weswegen wir für ihn einmal nachgeschaut haben: Der Kunststoffspreizdübel mit den Rillen und Laschen, wie er Tag für Tag millionenfach in Wandlöcher gesteckt wird, wurde von Artur Fischer im Jahr 1958 ersonnen. Doch bereits seit 1928 liegt beim damaligen Reichspatentamt ein Patent für einen «Hülsenspreizdübel» vor, der zunächst aber eine Hülle aus Metall und einen Kern aus Gewebe besass. Oder, Otto, die Glühbirne? Da wird‘s schon schwieriger: Entgegen der allgemeinen Ansicht, Thomas Edison sei ihr Erfinder, muss gesagt werden, dass schon zu Zeiten, als der kleine Thomas noch auf Windeln angewiesen war, bereits erste Patente für das Funktionsprinzip einer Glühlampe existierten. Edisons Verdienst Ende des 19. Jahrhunderts jedoch ist die Weiterentwicklung zum massentauglichen Lichtgeber. Und das mit durchschlagendem Erfolg: Seit über 120 Jahren ist die Glühbirne das wichtigste und vor allem beliebteste Leuchtmittel.

Bereits im Treppenhaus des ZVE verdeutlicht die Architektur eine formale Durchdringung der Räume. (Foto: Christian Richters / Fraunhofer IAO, UNStudio, ASPLAN)

Die Schweizer Firma Cobiax Technologies entwickelte um die Jahrtausendwende eine Idee, die ebenfalls einleuchtender nicht sein könnte: Waren Kieselsteine in unterschiedlichen Grössen (Körnungen) bisher die einzigen Zuschlagstoffe im Beton, machten sich die Schweizer Tüftler daran, einen völlig neuen Zuschlagstoff zu entwickeln. Wobei «Zuschlagstoff» schon nicht ganz richtig ist. Ihre Idee denkt das System «Beton» von Grund auf neu und vereint gleich mehrere Vorteile: Leichte Hohlkörper aus Kunststoff ersetzen den schweren Beton überall dort, wo er statisch nicht wirksam ist. 18 bis 45 cm grosse Kugeln werden während der Bewehrungsarbeiten in die Betondecke eingebracht und fixiert. Hier verdrängen sie den Beton, was eine erhebliche Beton-Einsparung bringt. Die Decke wird dadurch bis zu 35% leichter, ohne an Tragfähigkeit einzubüssen. So sind grössere Spannweiten wie andererseits auch kleinere Deckenquerschnitte möglich. Je nach Planung kann sogar auf Unterzüge verzichtet werden, was für den Architekten wiederum eine grössere Freiheit in der Raumplanung bedeutet. Auch auf Gebäudezertifizierungen wie DGNB, LEED oder BREAM haben die Cobiax-Kugeln einen Einfluss. Und nicht zuletzt bestehen die Kugeln aus einem Recycling-Material, erkennbar an ihrer Verschiedenfarbigkeit. So lassen sich am Ende durchschnittlich ca. 20% Beton und ca. 8% Bewehrungsstahl einsparen – hochgerechnet entspricht das (so der Hersteller) einem CO2-Einsparpotenzial in Deutschland von mehreren Hunderttausend Tonnen.

Atrium und Treppenhaus erhalten Licht von oben durch eine grosszügige Lichtdecke.(Foto: Christian Richters / Fraunhofer IAO, UNStudio, ASPLAN)

Cobiax aber ist nicht nur für den Technologen und Statiker eine Freude, sondern auch für den Architekten. Das – so berichtet jedenfalls Otto – hat man jüngst beim Bau des Zentrums für Virtuelles Engineering ZVE des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart-Vaihingen gesehen. Ben van Berkel entwarf hier ein Gebäude, das den Grundgedanken der freigeistigen Forschung auch im Entwurf zum Ausdruck bringen sollte: Durch fliessende Formen und ineinandergreifende Raumzusammenhänge entsteht ein offenes und kommunikatives Gebäudekonzept, bei dem die Bereiche nicht starr voneinander abgegrenzt sind, sondern einen interdisziplinären Austausch fördern. Dem Besucher soll dies bereits beim Betreten des Gebäudes bewusst werden: Das gebäudehohe Atrium ist geprägt von Kanten und Flächen, an denen sich das Licht von oben in vielfältigen Schattierungen bricht.

Diese komplizierte Formsprache wurde bereits (und das ist völlig neu in einem Bauprozess) vor Baubeginn durch das Programmieren des gesamten Gebäudes als detailliertes 3D-Modell anschaulich visualisiert. So konnten die komplexen Formen für alle Beteiligten anschaulich vermittelt werden. Die Planer erkannten dabei ausserdem, dass die lichte Anmutung im Gebäudeinneren durch das bis dahin vorgesehene Tragwerk erheblich beeinflusst würde. Auf der Suche nach der Lösung für dieses Problem stiess man auf die Cobiax-Kugel. Durch sie konnte viel Material und somit Gewicht eingespart werden. Eine Neuberechnung der Statik ergab, dass störende Stützen entfernt und dem Raum seine ursprünglich erdachte Leichtigkeit wieder zurück gegeben werden konnte. Otto indessen hatte auf der Baustelle auch seine Freude: Mit den verschiedenfarbigen Kugeln hat der nämlich beim Einbringen ein hübsches Muster verlegt, das nun, nach dem Betonieren, aber leider nicht mehr zu sehen ist.

Die stützenfreie Konstruktion wird nur dadurch möglich, dass die Bauteile durch Cobiax so leicht wie möglich gehalten werden. (Foto: Christian Richters / Fraunhofer IAO, UNStudio, ASPLAN)
Zum Haupteingang hinauf führt für die Fussgänger eine elegante, nur leicht ansteigende Treppe. (Foto: Christian Richters / Fraunhofer IAO, UNStudio, ASPLAN)
Die Cobiax-Kugeln verdrängen dort den Beton, wo statisch auf ihn verzichtet werden kann. (Foto: Headroom Consult / Fraunhofer IAO)
So oder so ähnlich verpackt werden die Cobiax-Kugeln auf der Baustelle angeliefert und müssten dort nur noch in die Bewehrung eingearbeitet werden. (Abbildung: Cobiax Technologies)
Räumliche Zusammensetzung mit Atrium
Raumprogramm mit Gebäudehülle
An den Kanten und Oberflächen im Atrium bricht sich das Licht in vielen verschiedenen Nuancen, wodurch die Plastizität der Formsprache noch gesteigert wird. (Foto: Christian Richters / Fraunhofer IAO, UNStudio, ASPLAN)
Farben in der Fassade lassen schon von aussen die verschiedenen Bereiche des Fraunhofer IAO erkennen. (Foto: Christian Richters / Fraunhofer IAO, UNStudio, ASPLAN)
Bei Dämmerung wird schon von aussen die Grosszüigkeit im Innenraum sichtbar. (Foto: Christian Richters / Fraunhofer IAO, UNStudio, ASPLAN)
Cobiax Technologies GmbH
Wiesbaden, D

Projekt
Zentrum für Virtuelles Engineering des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO
Stuttgart, D

Hersteller-Kompetenz
Cobiax Hohlkörpermodul Eco-Line

Architektur
UNStudio
Amsterdam, NL

mit
ASPlan Architekten
Kaiserslautern, D

Tragwerksplanung
BKSi GmbH
Stuttgart, D

Bauherr
Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V.
München, D

Nutzer
Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO

Fertigstellung
2012

Fotonachweis
Christian Richters
Bernd Müller
Headroom Consult
Fraunhofer IAO

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Vorgestelltes Projekt

EBP AG / Lichtarchitektur

Schulanlage Walka Zermatt

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