Aus einem (Beton-)Guss

Thomas Geuder
17. Juni 2014
Das Hauptgeschoss des Wohnhauses H36 besitzt eine grosszügige Fensterfassade, die sich zu Garten und Stadt öffnet. (Foto: Roland Halbe)

Kein Zweifel: Beton ist ein praktischer und vielfältig einsetzbarer Baustoff. Dennoch ist er relativ schwer und muss zudem meist wärmegedämmt werden, letztendlich ein ökonomischer wie ökologischer Faktor. Beim Thema Gewicht gibt es vor allem für Decken einige gewichtssparende Antworten, etwa das Einbringen von grossen Kunststoffkugeln zwischen die Bewehrung, wodurch die Decke leichter wird und deswegen kleiner dimensioniert werden kann (wir berichteten über das Zentrum für Virtuelles Engineering in Stuttgart). In Stuttgart ist jüngst ein Wohngebäude entstanden, bei dem die komplette sichtbare Hülle aus Beton ohne zusätzliche Wärmedämmung besteht, mit sichtbarer Oberfläche innen wie aussen. Möglich ist das durch den Beton selbst, der die nötige Wärmedämmeigenschaft mit sich bringt. Bei dem Dämmbeton Technolith wird statt wie üblich Kies als Zuschlagstoff Glasschaumgranulat (bekannt auch als Schaumglas oder Schaumglasschotter) verwendet. Dieser Zuschlagstoff besteht zu 100 % aus sortiertem Altglas. Das gesammelte Material wird vermahlen und zusammen mit einem natürlichen Blähmittel erhitzt. Es entstehen feinporige, frostsichere und feuerbeständige Glassteine mit einem geringen Schüttgewicht von rund 170 kg/m³, für die eine Belastung von 50 t/m² kein Problem darstellt. Die eingeschlossenen Bläschen sorgen am Ende für eine gute Dämmwirkung, die Oberfläche der Glassteine ist geschlossen und verhindert das Eindringen von Wasser. Beim Wohnhaus H36 wurde ausserdem eine Zementmatrix mit einem Luftporenanteil von 25 % eingesetzt, die Wandstärke beträgt dabei 45 cm. MBA/S, die Tragwerksplaner von RFR und der Technopor haben mit dem Betonwerk TBR so lange geforscht und getestet, bis sie einen optimalen Kompromiss aus allen Anforderungen gefunden haben und Tragwerk und Dämmung so in nur einer einzigen Schicht vereinen konnten.

Im Obergeschoss befindet sich das Bad mit im Boden versenkter Badewanne und Waschbecken direkt vor dem Fenster. (Foto: Roland Halbe)

Indessen ist der Ort, an dem das Gebäude entstanden ist, kein einfach zu bebauender: Das Grundstück befindet sich an einem steilen Südhang mit einem Gefälle von 10 Metern im Stuttgarter Westen, wo die Bebauungsstruktur aus kleineren Einzelhäusern besteht. Der Stuttgarter Architekt Matthias Bauer wollte das Gebäude vor Einblicken von der oberhalb gelegenen Strasse abzuschirmen und die Aussicht auf den Garten und die Stadt zu öffnen. So ist ein monolithisch anmutender Baukörper entstanden, der an einen Kristall erinnert. Die Gebäudeform nimmt Bezug auf die Bebauung in der Umgebung mit den typischen Dachschrägen, interpretiert diese jedoch weiter, ohne die städtebauliche Harmonie zu stören. Die exponierte Lage bringt schliesslich nicht nur die gute Aussicht, sondern auch ein Gesehenwerden mit sich. Dach und Wand wollte Matthias Bauer „formbar wie Lehm“ gestalten, was letztendlich zu der Bauweise aus Sichtbeton führte. Das statische Konzept einer freitragenden, gefalteten Schale, die nur auf zwei Wandscheiben lagert, erfordert einen konstruktiven Stahlbeton, der als LC 8/9 mit normal zweilagiger Mattenbewehrung bereits ausreichend bemessen war. Entstanden ist eine Architektur, die eine besondere Atmosphäre besitzt, Schutz und Geborgenheit vermittelt. Die grossen Öffnungen geben Licht und Weite. Der Rohbau ist hier Ausbau: Nirgendwo klingt das Material hohl, alle Oberflächen sind haptisch und warm, die sägerauhe Bretterschalung sorgt aussen wie innen für eine anregend lebendige Oberflächenstruktur, die natürlich helle, leicht silbrige Note resultiert aus der Mischung mit Weisszement. Das Wohnhaus H36 zeigt einmal mehr, welches gestalterische Potenzial im Baustoff Beton liegt.

Die Dachgeometrie bestimmt auch die Form der Decke im Innenraum. (Foto: Roland Halbe)
Vom Wohnraum aus hat man einen wunderbaren Blick über den Stuttgarter Westen. (Foto: Der Raumjournalist Thomas Geuder)
Mit seiner Kubatur passt das Gebäude bestens in die umgebende Bebauungsstruktur. (Foto: Christopher Stark)
Lageplan
Grundriss Dachgeschoss
Grundriss Erdgeschoss
Grundriss Untergeschoss
Detail Fensteranschluss
Wände aus Dämmbeton sind haptisch einer Holzwand ähnlich und werden als warme Oberflächen empfunden. (Foto: Der Raumjournalist Thomas Geuder)
Kein konstruktives Problem: die Anordnung der Fensterebenen innen und direkt daneben aussen. (Foto: Der Raumjournalist Thomas Geuder)
So sieht der Zuschlagstoff für die Betonmischung aus: Glasschaumgranulat. (Foto: Technopor)
Die steile Auffahrt zum Parkplatz neben dem Eingang ist im Winter übrigens beheizbar. (Foto: Roland Halbe)
Projekt
Wohnhaus H36
Haus am Hasenberg
Stuttgart

Hersteller
TECHNOpor Handels GmbH
Krems an der Donau, AT

Kompetenz
TECHNOlith Dämmbeton

Architekt
MBA/S Matthias Bauer Associates
Stuttgart, D

Team
Matthias Bauer, Björn Sippel, Sabine Schneider, Sven Hummerich

Tragwerkplaner
RFR Ingenieure GmbH
Stuttgart, D

Bauunternehmer
A. Wölm Bau GmbH
Wernau, D

Betonwerk
TBR Frischbeton Stuttgart GmbH & Co. KG
Stuttgart, D

Technische Gebäudeausrüstung
Schöllhammer Energie-Systeme GmbH & Co.KG
Bad Urach, D

Fassadenberater und Bauphysik
Facade engineering VS-A
Lille, F

Energieberatung
TransSolar Energietechnik GmbH
Stuttgart, D

Landschaftsarchitekten
Glück Landschaftsarchitektur
Stuttgart, D

Fertigstellung
2013

Fotografie
Christopher Stark
Roland Halbe

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