Der Sonne entgegen

Thomas Geuder
23. April 2013
Die Fassade des Gebäudes Q1 im dem ThyssenKrupp Quartier legt sich wie eine «Schale» um die dahinter liegende Glasfassade. (Foto: Günter Wett / Frener & Reifer)

Komisch eigentlich: Zwar diskutiert die Fachwelt schon immer darüber, was ein guter Arbeitsplatz wäre, seit aber der Computer in unsere Büros gekommen ist, ist das Dilemma gross. Möglichst hell und freundlich soll er sein, blendfrei sowohl auf der Arbeitsfläche wie auch am Bildschirm, beruhigend und animierend zugleich sowie (eine erst junge Sicht) mit Raum für Individualität. Der Mensch lebt schliesslich nicht vom Arbeiten allein! Gleichzeitig entstehen allerorts Bürogebäude, deren Fassaden – ganz im Sinne einer demokratischen Transparenz – möglichst offen und lichtdurchlässig resp. mit Glas eingekleidet sind. Warum so viele Bauherren wie Architekten auf Glasfassaden fixiert waren und sind, erschliesst sich Betrachtern wie Nutzern nur in wenigen Fällen. Der Zwist indessen bleibt erhalten: Computer-Nerds arbeiten am liebsten im Halbdunkel, Otto Normalcomputerarbeiter aber braucht eine individuelle Atmosphäre und will auch mal aus dem Fenster schauen dürfen. Der stets vorhandene Bezug zum Aussenraum also. Hell, (welt-)offen und (Kunden wie Mitarbeitern gegenüber stets) freundlich, so stellen sich auch Firmenchefs ihre Corporate Architecture vor. Doch Sonne und Bildschirm vertragen sich nur bedingt, und der Wärmeenergieertrag durch Glasfassaden kann schnell überhandnehmen.

Dem Architekten und Planer bleibt bei solchen Architekturwünschen meist nichts anderes übrig, als mit aufwendigen Sonnenschutzmassnahmen dafür zu sorgen, dass das Arbeiten trotz Sonneneinstrahlung möglich bleibt. An kreativen Ideen zur Problembeseitigung jedenfalls mangelt es nicht: Von intelligenten Lamellen für den Glaszwischenraum über sich selbst verdunkelnde Scheiben bis hin zu komplizierten Gebäudesystemen für die Steuerung von Rollos, Fenstern und Lüftungsanlagen ist ziemlich alles denk- und machbar. Die automatische Veränderbarkeit von Gebäuden und deren Fassaden geht sogar so weit, dass kinetische Architekturen entstehen, die sich mal komplett dem Sonnenstand entsprechend drehen lassen oder deren Aussenhaut sich selbsttätig reaktiv verändert. Ganz nach Gesinnung und Mut des Bauherrn und nicht immer mit technischem Gelingen, wie bei dem einen oder anderen Projekt hinter vorgehaltener Hand zu hören ist.

An sonnigen Tagen gibt sich die Fassade des Q1 recht geschlossen. (Foto: Günter Wett / Frener & Reifer)

In der Welt der Fassadenspezialisten sind diese Projekte natürlich bestens bekannt. Und so muss man sich bei Frener & Reifer der technologischen Herausforderung durchaus bewusst gewesen sein, als die Architekten von JSWD und Chaix & Morel mit einem Entwurf anklopften, der eben diese Idee der sich bewegenden und anpassenden Fassade verfolgt. Ausgedacht hat sich das Architektenteam ein System, das mechanisch nicht allzu kompliziert ist und deswegen wohl viele Jahre dem Wetter ausgesetzt einen guten Dienst leisten wird. Der Weg zur finalen Idee war ein ganz logischer: Die Architekten waren auf der Suche nach einem System, das die Vorteile von horizontalen Lamellen nutzt und trotzdem die Sicht nach draussen nicht verhindert. Der unter diesen Vorzeichen entwickelte Sonnenschutz kann Erstaunliches: Zunächst einmal hindern die horizontalen Lamellen das Sonnenlicht, direkt in den Raum zu fallen. Durch Reflexion füllen sie den Raum dennoch angenehm mit natürlichem Licht. Gleichzeitig wird die Sicht nach draussen aber nicht versperrt. Die Lamellen drehen sich um die vertikale Achse und folgen so dem Stand der Sonne auf Schritt und Tritt. Und wenn es einmal bewölkt ist, können die Lamellen zusammengeklappt werden, sodass sie den Blick nach draussen fast gar nicht mehr behindern – der Kurzfilm (weiter unten) zeigt dies eindrucksvoll. Angetrieben wird die Doppelachse, an der die Lamellen befestigt sind, durch einen Linearmotor.

Sonnenschutz mit Durchblick: Die Lamellen schliessen oder öffnen die Fassade, je nach Sonneneinstrahlung. (Fotos: Günter Wett / Frener & Reifer)

ThyssenKrupp, Deutschlands grösstes Stahl- und Technologieunternehmen, in Essen stellt sich zurzeit architektonisch neu auf. Es entsteht seit einigen Jahren das neue ThyssenKrupp-Quartier, ein Ensemble aus mehreren Einzelgebäuden, eingebettet in einem weitläufigen, baumbestandenen Teppich und locker gruppiert um ein grosses, zentrales Wasserbecken. Herzstück des Campus am einen Kopfende des Wasserbeckens ist das Gebäude Q1, das mit einer Höhe von massstäblich erträglichen 50 Metern alle anderen Gebäude überragt. Die Fassaden des gesamten Quartiers folgen dem einheitlichen Konzept «Schale – Kern», in dem der Typus «Schale» den Fassadenabschluss der Gebäudevolumina nach aussen bildet und der Typus «Kern» den Höfen und Atrien zugewandt ist. Die äussere Gebäudehülle bestimmend ist – ganz im Sinne einer Corporate Architecture – der hauseigene Edelstahl, aus dem der gesamte Sonnenschutz inklusive Konstruktion besteht. Beim Q1 sind das ca. 3.150 vertikale Doppelachsen mit rund 400.000 horizontalen Edelstahllamellen, gesteuert über 1.280 Linearmotoren, auf einer Fassadenfläche von insgesamt 8.000 Quadratmetern. Wenn bei einem solchen kinetischen Sonnschautzsystem das Herz von Otto nicht höher schlagen sollte, dann wissen wir (und auch die Architekten) ganz bestimmt auch nicht mehr weiter.

Ziel bei der städtebaulichen Planung war ein Quartier mit einem kompakten und homogenen architektonischen Erscheinungsbild. (Foto: Christian Richters)
Im Rohbau war noch gut zu sehen: Hinter der Sonnenschutz-Schale bildet eine gewöhnliche Glasfassade die eigentliche thermische Trennung. (Foto: Jens Willebrand)
Durch trapezoide, dreieckförmige und rechteckige Einzelelemente wird die Sonnenschutzkonstruktion zusätzlich inszeniert. (Foto: Günter Wett / Frener & Reifer)
Hier gut zu sehen: die Doppelachse, an der die horizontalen Lamellen befestigt sind. (Foto: Frener & Reifer)
Gut versteckte Linearmotoren sorgen für Bewegung in der Sonnenschutz-Schale. (Foto: JSWD / Chaix & Morel)
Funktionsweise des Sonnenschutzes im Tagesverlauf.
So soll das ThyssenKrupp Quartier einmal aussehen. Links vorne deutlich an seiner Kreuzform zu erkennen der Bestandsbau von HPP aus dem Jahr 1985. (Foto: ThyssenKrupp)
Grundriss 7. Obergeschoss
Grundriss 2. Obergeschoss
Grundriss Erdgeschoss
Schnitt B-B
Lageplan
Im Inneren zeigt sich das Q1 räumlich erstaunlich grosszügig. gegliedert. Den Raumabschluss nach Norden und Süden, jeweils zur Wasserachse, bilden zwei 28,1 mal 25,6 m grosse, gläserne Panoramafenster. (Foto: Christian Richters)
Die gläsernen Panoramafenster bestehen aus jeweils 96 Scheiben und werden von einer hauchdünnen, kaum sichtbaren Seilkonstruktion gehalten. (Foto: Christian Richters)
Frener & Reifer GmbH | Srl
Brixen, I

Hersteller-Kompetenz
Sonderanfertigung aussenliegender Sonnenschutz

Projekt
ThyssenKrupp Quartier, Gebäude Q1
Essen, D

Architektur
Arge Architekten ThyssenKrupp Quartier
JSWD Architekten
Köln, D

in Zusammenarbeit mit
Chaix & Morel et Associés
Paris, F

Projektsteuerung und Generalplanung 1. Bauabschnitt
ECE Projektmanagement GmbH
Hamburg, D

Bauherr
ThyssenKrupp AG
Essen, D

Fertigstellung
1. Bauabschnitt
2010
2. Bauabschnitt
2014

Fotonachweis
Christian Richters
Günter Wett / Frener & Reifer
JSWD / Chaix & Morel
Jens Willebrand
ThyssenKrupp

Projektvorschläge
Sie haben interessante Produkte und innovative Lösungen im konkreten Projekt oder möchten diesen Beitrag kommentieren?
Wir freuen uns auf Ihre Nachricht!

Vorgestelltes Projekt

atelier a und b ag

Martiweg

Andere Artikel in dieser Kategorie