Licht für alle

Thomas Geuder
19. August 2014
Von Rosensteinpark wie Wilhelma aus weithin sichtbar: die Seilnetzkonstruktion des Aussenbereichs, die von einem «Stützenwald» aus schlanken, geneigten Stahlstützen getragen wird. (Foto: Hugo Jehle)

An einem Ort wie der Stuttgarter Wilhelma zu bauen, ist etwas besonderes. Denn die Wilhelma ist nicht nur einer der beliebtesten Zoos in Deutschland, sondern auch botanischer Garten mit zahlreichen seltenen Pflanzen und dem grössten Magnolienhain Europas nördlich der Alpen. Dessen Geschichte reicht bis ins Jahr 1829, als der König Wilhelm I. von Württemberg hier an den Hängen des heutigen Rosensteinparks den Bau eines «Badhauses im Maurischen Stil» im Schlosspark plant, ergänzt durch eine Orangerie und ein Gewächshaus. Die Haltung von Tieren indes beginnt erst 1952 mit dem Umbau der Wilhelma zum zoologisch-botanischen Garten. Seitdem sind dort viele beachtliche Zuchterfolge erzielt worden, unter denen vor allem die die Aufzuchtstation für Menschenaffen hervorsticht, die nach wie vor die einzige ihrer Art in Europa ist. Die Affen der Wilhelma erhalten Anfang der 1970er-Jahre ein eigenes Haus, das wegen der Nähe zu den Tieren (Mensch und Affe waren im Innenraum nur durch eine Glasscheibe getrennt) grosse Beachtung fand.

Unter den beiden Dachschalen, die im Park einen «Bergrücken» bilden, sind die Innengehege für die Gorillas und die Bonobos angeordnet. (Foto: Hugo Jehle)

Es sind also geschichtsträchtige Fussstapfen, in die die Planer von Hascher Jehle Architekten treten mussten, als sie im Jahr 2007 mit der Planung der Anlage für Afrikanische Menschenaffen begannen. Ihre Entwurfsidee: Auf dem topografischen Hochpunkt des Rosensteinparks gelegen, soll das neue Gehege der afrikanischen Menschenaffen einen artifiziellen Bergrücken ausbilden. Der Baukörper soll sich entlang einer S-förmigen Linie um den Baumbestand herum entwickeln und sich an den gebogenen Enden scheinbar unter das Erdreich schieben. Dieser Effekt wird durch die Ausbildung zweier begrünter und schalenartig gebogener Dachflächen erzielt, die kontinuierlich fliessend in den angrenzenden Landschaftspark übergehen. Unter den beiden Dachschalen wurden die Innengehege für die Gorillas und die Bonobos angeordnet, darüber das begrünte Aussengehege, überspannt von einer amorphen Seilnetzkonstruktion. Der Besucherweg durch das Gebäude folgt der S-Form und öffnet sich über grosse Verglasungen zur Landschaft und den Menschenaffen. Eine Reverenz an das alte Menschenaffenhaus sind die terrassenförmige Entwicklung des Weges und die Begegnung zwischen Mensch und Tier, die hier sogar noch unmittelbarer ist, denn die Glasscheiben trennen nicht raumhoch. Geräusche, Laute und Gerüche sind somit Teil des Erlebnisses.

Menschen und Menschenaffen stehen sich auf einer Ebene direkt gegenüber und bewegen sich in dem selben Klang-, Luft- und Lichtraum – eine Begegnung auf Augenhöhe. (Foto: Svenja Bockhop)

Diese «Grenzzone» im Innenraum leistet viel auf kleinem Raum, um den Eindruck einer Einheit von Gehege- und Besucherbereich zu erzeugen: Panzerverglasungen mit einer Höhe von etwa 2,50 m trennen den Besucher von den Affen und treten gleichzeitig durch ihre schräge, (meist) reflexionsarme Anordnung sowie eine profillose Minimalkonstruktion in der Wahrnehmung zurück. Die etwa 4 cm dicken Gläser sind vertikal ausschliesslich über Silikonfugen miteinander verbunden, die als statisch wirksame Verbindung dem Gewicht und der Kraft eines 200 kg schweren Gorillaaffens standhalten müssen. Üppiges Grün in Pflanzeninseln am Boden sowie Pflanzentrögen oberhalb der Gläser rahmt die Fenster zu den Gehegen. Die tropischen Gewächse aus der afrikanischen Heimat vermitteln dem Besucher ein vollständiges Bild von den Tieren in ihrer ursprünglichen, natürlichen Umgebung und bieten den Tieren gleichzeitig die Möglichkeit, sich den Blicken der Betrachter zu entziehen.

Pflanzeninseln sowie Pflanzentröge oberhalb der Fenster rahmen die Verglasung ein und erzeugen so das Bild einer ursprünglichen, natürlichen Umgebung. (Foto: Svenja Bockhop)

Das Lichtkonzept basiert auf möglichst viel natürlichem Licht, das durch die teilweise raumhohe Verglasung des Besucherwegs sowie durch zahlreiche Oberlichter im Dach erfolgt. Die komplexe Zone zwischen Mensch und Tier wird von Scheinwerfern mit (an der Decke streng linear angeordneten) warmweissen Halogen-Metalldampflampen (WE-EF) ausgeleuchtet, deren Licht derart verteilt und gestreut wird, dass auf den unterschiedlichen Pflanzenebenen jeweils Beleuchtungsstärken von rund 3000 lx erreicht werden, bei einer Leistungsaufnahme von 150 Watt pro Scheinwerfer. Das Team um den technischen Leiter Botanik, Dirk Herkert, votierte für Scheinwerfer mit Halogen-Metalldampflampen anstatt der zunächst favorisierten LED Lösung, weil letztlich die spektralen Eigenschaften der Lichtquelle über Erfolg oder Misserfolg der Pflanzenbeleuchtung entscheiden. So stellt das nun installierte Licht am Ende einen spektralen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der Pflanzen, denen der Besucher und der Menschenaffen dar. Zur Reduktion des Energieverbrauchs lässt sich die Anlage in Gruppen schalten, ausserdem ist sie – dem tropischen Tagesrhythmus entsprechend – täglich nur maximal zwischen 6 und 18 Uhr in Betrieb.

Eine etwa 2,50 m hohes und etwa 4 cm starkes Panzerverglasung, deren Scheiben nur über Silikonfugen verbunden sind, trennt Mensch und Affe voneinander. (Foto: Hugo Jehle)
Lageplan/Dachaufsicht (Quelle: HASCHER JEHLE Architektur)
Grundriss Hauptgeschoss (Quelle: HASCHER JEHLE Architektur)
Querschnitt gesamte Anlage (Quelle: HASCHER JEHLE Architektur)
Konzept Innenraumklima (Quelle: HASCHER JEHLE Architektur)
Die Gehäuse der Scheinwerfer verfügen über eine von WE-EF entwickelte Korrosionsschutz-Technologie und widerstehen so den im Menschenaffenhaus herrschenden tropischen Luftfeuchtigkeit. (Foto: Svenja Bockhop)

Das Innenraumklima wird von vielzähligen «Low-Tech-Massnahmen» bestimmt, die ein System bilden: Feuchte-, Temperatur-, CO2- und Strahlungsmesser steuern den Öffnungstakt und -grad der Lüftungsklappen und der Sonnenschutzrollos sowie die Be- und Entwässerung der Pflanzen. (Foto: Hugo Jehle)
Der historische Bestand in der Wilhelma wurde zum grössten Teil von dem Architekten Karl Ludwig von Zanth im maurischen Stil entworfen. Im Bild: Gewächshaus am Maurischen Landhaus und Magnolienhain. (Foto: Wilhelma Stuttgart)
Projekt
Anlage für afrikanische Menschenaffen
Stuttgart, D

Architekt
HASCHER JEHLE Assoziierte GmbH
Berlin, D

Team
Projektleitung: Ralf Mittmann, Jens Riepen, Johannes Raible
Mitarbeiter: John Barnbrook, Peter Edlinger, Jenny Katholy, Maximilian Porzelt, Nadine Sawade, Christian Speelmanns
Praktikanten: Aloysia Forestier, Katharina Lengfeld, Laura Westenfelder, Nele Adelheim, Marzia Singer, Sebastian Kittel berger, Kristina Bitter, Nefeli Konstantopoulou, Jonas Wenzke, Holger Witte

Hersteller
WE-EF LEUCHTEN GmbH & Co. KG
Bispingen, D

Kompetenz
Scheinwerfer Typ FLC240

Bauherr
Land Baden-Württemberg
vertreten durch: Vermögen und Bau BW
Stuttgart, D

Bauleitung
Guggenberger und Ott Architekten GmbH
Leinfelden-Echterdingen, D

Landschaftsarchitekten
Möhrle + Partner
Stuttgart, D

Lichtplanung
IFT Institut für Tageslichttechnik
Stuttgart, D

Statik
Weischede, Herrmann & Partner
Stuttgart, D

Tragwerk Netzanlage
officium design engineering GmbH
Stuttgart, D

Heizung- und Lüftungsplanung
Rentschler und Riedesser Ingenieur GmbH
Filderstadt, D

Elektroplanung
Klett Ingenieur GmbH
Fellbach, D

Bauphysik
GN Bauphysik Ingenieurgesellschaft mbH
Stuttgart, D

Baugrundgutachten
Smoltczyk & Partner GmbH
Stuttgart, D

Vermessung
Intermetric GmbH
Ditzingen, D

Informationssystem
Ranger Design
Stuttgart, D

Schieberanlage
Hochmuth + Beyer GmbH & Co. KG
Ettlingen, D

Elektrodrahtanlage
Ingenieurbüro J. Döhler
Leipzig, D

Auszeichnung
Hugo-Häring-Auszeichnung 2014

Fertigstellung
2013

Fotografie
Hugo Jehle
Svenja Bockhop
Wilhelma Stuttgart

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