Sinnlichkeit

Thomas Geuder
29. Mai 2013
Das SU House in Stuttgart besitzt drei Geschosse: unten das Schwimmbad mit Wellness-Bereich, in der Mitte das Hauptwohngeschoss und oben die Rückzugsräume der Bewohner. (Foto: Zooey Braun)

Thomas Geuder: Herr Brenner, lassen Sie uns über Raumbegrenzungen sprechen. Beim Betrachten Ihrer Architektur hat man sofort die Ideale der niederländischen De-Stijl-Bewegung vor Augen. Ich würde sogar fast soweit gehen, Ihren Entwurfsstil als dekonstruktivistisch zu bezeichnen …
Alexander Brenner: Das ist interessant, dass Sie das sagen – so hat das bisher noch niemand gesehen.

Ach, das wundert mich!
Aufgrund der weissen Putzflächen fallen zunächst natürlich Begriffe wie Bauhaus und klassische Moderne. Damit wir uns aber nicht falsch verstehen: Diese Dinge finden sich aber natürlich auch in meiner Architektur wieder.

Von der klassischen Moderne haben Sie sicherlich auch einiges in Ihrer Ausbildung mit auf den Weg bekommen.
Gar nicht mal so sehr, denn in der Zeit meines Studiums Anfang/Mitte der 1980er-Jahre war die Postmoderne vorherrschend – eine Sprache, die für mich persönlich schon damals nicht besonders ergiebig war, weswegen ich mich dann auch der klassischen Moderne widmete. Mit De Stijl habe ich mich weniger beschäftigt, wobei ich heute im Rückblick schon sehe, dass mich Gebäude wie das Haus Schröder von Gerrit Rietveld in Utrecht beeinflusst haben.

Die Wände Ihrer Häuser sind manchmal sogar derart «dekonstruiert», dass man fast meinen könnte, die grosse, gleichmässige und pure Fläche ist für Sie langweilig.
Das stimmt nicht ganz. Was mich beim Entwerfen eigentlich interessiert, ist das Erzeugen von Tiefe. Gebäude und Räume, deren Kubatur man auf den ersten Blick erfassen kann, sind für mich tatsächlich eher langweilig. Dinge haben für mich vor allem dann Qualität und Bestand, wenn sie sich nicht unmittelbar in allen Dimensionen sofort erschliessen lassen – also z.B. Fassaden, bei denen nicht sofort ablesbar ist, was sich dahinter verbirgt. «Tiefe» als Thema zieht sich durch den gesamten Entwurf. Und so besteht die Grossform aus vielen einzelnen kubischen Elementen, die sich zu einem Ganzen fügen, immer mit einer Abstufung in der Tiefe über alle Ebenen, von der Gebäudekubatur über den Raum bis hin zur Oberfläche und zur Materialität.

Die Fügung zwischen aufeinanderstossenden Flächen und Körpern wird bei Alexander Brenner meist durch eine Schattenfuge präzisiert. (Foto: Zooey Braun)

Geht es also um eine Art formale Schachtelung?
Es geht um eine Schichtung in der Tiefe, und dadurch um die grundlegende Beeinflussung des Raums. Man kann auf diese Weise die Räume und Bereiche definieren, relativieren, aber auch hierarchisieren. Durch die Schaffung von Dipolen – wie geschlossen und offen, wie eng und weit, wie niedrig und hoch – entstehen Spannungsfelder.

Neben der Staffelung der Ebenen in der Tiefe ist Ihnen also ein räumlicher Umgang mit der Architektur besonders wichtig?
Genau. Es geht um Raumzonen, durch die auch grössere, fliessende Räume gestaffelt werden können. Manche Elemente sehen dabei fast wie zufällig angeordnet aus – sie sind es tatsächlich aber nicht. Körper, Wandscheiben, Brüstungen, Dächer etc. haben immer beides: eine praktische und eine ästhetische Funktion. Mir geht es dabei sehr um das Gefühl des Wohnens. Denn dieses Gefühl hat sich schliesslich nicht erst in den letzten 20 Jahren entwickelt, sondern steckt tief in uns. Das Bedürfnis nach der Geborgenheit einer Höhle bzw. der Wunsch, den «Rücken frei zu haben», äussert sich heute noch, wenn wir uns in einem Restaurant zunächst einmal in die Ecke setzen, von wo aus wir den offenen Raum sehen können. Ein heutiges Haus muss diese uralten Wohnbedürfnisse auch befriedigen können. Gleichzeitig haben sich unsere Wohngewohnheiten aber auch verändert und angepasst, und so möchten wir beispielsweise einen Sommerregen auch draussen erleben dürfen, ohne nass zu werden, also mit einem Überstand oder einem Vordach. Das Gefühlte und das Praktische dürfen deswegen nicht aus den Augen verloren werden. Deutlich wird das bei solchen Dingen wie etwa dem Dach vor der Eingangstür, unter dem man schon vor Betreten der Wohnung sich beschützt und zu Hause fühlt. Derartige Elemente haben also in aller Regel eine Mehrfachbegründung.

Die Terrasse schützt ein Dach, auf dessen Untersicht mittels einer dreidimensionalen Putztechnik ein florales Muster aufgebracht wurde. (Foto: Zooey Braun)

Die Form Ihrer Architektur kommt also nicht nur aus dem blossen Raumgedanken, sondern generiert sich aus den ganz ureigenen Bedürfnissen des Menschen.
Ja, und ein ganz wichtiger Teil ist hierbei die Oberfläche und deren Qualität. Um diese Oberflächenqualitäten nicht zu stören, befinden sich bei uns die Steckdosen, Lichtschalter, Bewegungsmelder und sonstige Bedienelemente nicht auf eben diesen Flächen, sondern sind in Fugen oder sogar hinter Türelementen verborgen. Ich möchte in der Fläche eine Ruhe erzeugen. Bei aller Technisierung des Gebäudes und bei aller Undurchschaubarkeit von Systemen heutzutage ist für den Menschen die Oberfläche ein wichtiger, noch nachvollziehbarer Vordergrund. Deswegen sollte die Oberfläche Qualitäten haben, in denen der Mensch sich wohl und geborgen fühlt. Zwischen grauen Beton-Oberflächen etwa fühlen sich nur die wenigsten wohl, auch wenn sich das manche Architekten wirklich wünschen. Auch polierte Steinflächen wirken oft kalt und haben höchstens für öffentliche Gebäude einen praktischen Sinn, weil sie gut zu reinigen sind. Steinböden sind bei uns deswegen oft geflammt, gebürstet oder angeraut, um ein haptisch weicheres, atmosphärisches und akustisches Gefühl zu erzeugen. Es geht also um die Frage der Oberflächenbeschaffenheit.
Ich versuche für meine Häuser aber auch immer wieder, neue Materialien und neue Oberflächen zu finden und auszuprobieren, und das möglichst vorurteilsfrei. Wir haben z.B. mittlerweile schon öfter Kunstrasen an Fassaden verwendet, einfach in einer anderen Farbigkeit als Grasgrün. Solche ungewohnten, gleichzeitig aber auch unverwüstlichen Materialien an die Wand zu bringen, reizt mich sehr.

Die Oberfläche der Garagen im Hof besteht aus aufgeschäumtem Aluminium – ein Material, das normalerweise eher im Flugzeugbau zu finden ist, weil es leicht und formstabil ist. (Foto: Zooey Braun)

Wie wir schon bemerkt haben, fallen bei Ihren Häusern oft zunächst die weissen Flächen auf. Dennoch merkt man beim aufmerksamen Hinschauen, dass Sie sehr bewusst mit vielen verschiedenen und charakterstarken Oberflächen arbeiten. Nach welchem Prinzip entscheiden Sie, welche Fläche in einem Gebäude wohin kommen soll?
Vorwiegend nach funktionalen, taktilen und atmosphärischen Gesichtspunkten. Flächen vor einem Haus etwa lassen sich durch die Wahl des Bodenmaterials von einer reinen Garagenzufahrt zu einer Piazza umdefinieren. Eine Garagenwand muss nicht durch Tore zerstückelt sein, sondern kann als raumbildende Wand zum Eingang hin leiten. Eine Eingangstür aus massivem, skulptural bearbeitetem Holz darf auch schwer und wertig sein, denn mit ihr wird der gesamte Eingangsbereich charakterisiert. Das hat am Ende auch sehr viel mit Haptik zu tun, mit dem Gefühl beim Berühren einer Oberfläche und mit der Atmosphäre und der Sinnlichkeit eines Materials.

Kommen wir zur «Wand des Jahres» des farbrats: «wand13 chamäleon». Wie kamen Sie zu dieser Wand?
Wir arbeiten schon seit vielen Jahren mit der Firma Kellner Farbgestaltung Beck bei der Gestaltung von Wandoberflächen zusammen. Nachdem die Firma Kellner Muster-Oberflächen auf unterschiedlichen Trägermaterialien gefertigt hatte, entstand der Gedanke, diese Techniken nicht nur direkt auf der Wand anzuwenden, sondern eben auch auf anderen Werkstoffen. Für uns ergab sich dadurch die Möglichkeit, Wandverkleidungen (mit integrierten Schränken und Türen) mit diesen «neuen» Oberflächenqualitäten zu gestalten.

Die «wand13 chamäleon» (im Bild rechts) im Eingangsbereich besteht aus einem bronzefarbenen Metallgranulat auf einem Trägermaterial aus Holz, das in mehreren Schritten geschliffen und poliert wurde. (Foto: Kellner Farbgestaltung Beck)

Da würde mancher wahrscheinlich die Nase rümpfen und Themen wie Materialeinheit und Materialehrlichkeit auf den Tisch legen.
Man muss aber doch fragen: Was ist Materialehrlichkeit tatsächlich? Es gibt zum Beispiel eine «Würde» des Materials. Aber gibt es eine Ehrlichkeit des Materials? Linoleum beispielsweise ist ein Bodenbelag, gleichzeitig aber auch ein guter Belag für einen Tisch, weil es wärmer als Kunststoff ist, angenehm ist, seinen Zweck erfüllt und gut aussieht. Ist es dann also unehrlich, Linoleum als Tischbelag zu verwenden? Oder ist ein Kunstrasen an einer Wand unehrlich? Mir würde es jedoch nicht einfallen, eine Steinwand aus aufgeklebten Riemchen zu planen. An der Fuge und der Ecke sieht der Betrachter letztendlich, dass das keine gemauerte Wand ist. Darf also eine Schrankwand nicht auch eine Oberfläche aus Kupfer haben, oder eben eine aus Marmor-Kalk? Mit Laminaten und Furnieren hat schliesslich auch niemand ein Problem. Und spätestens die Randkante verrät ja, dass es sich um eine aufgetragene Oberfläche handelt. Es wird aus meiner Sicht also ganz ehrlich nichts vertuscht.

Bei Ihrem SU House in Stuttgart haben Sie viele verschiedene Materialien und Oberflächen eingesetzt. Für den einen oder anderen Pragmatiker vielleicht zu viel?
Das würden manche Kollegen vielleicht sagen. Andersherum würde ich manchmal sagen: Ist mir zu wenig! Grundsätzlich denke ich mir einfach: Das Leben ist vielfältig, jeder Tag ist anders. Ich finde, Materialvielfalt ist ein erstrebenswertes Ziel! Das führt nämlich dazu, dass der Nutzer auch im gemusterten, farblich nicht abgestimmten Hemd in einem solchen Raum sitzen kann, ohne sich über seine Kleiderwahl Gedanken machen zu müssen. Er kann ganz ungezwungen ein Teil des Ganzen sein. Manche favorisieren eine Materialeinheit – nur, warum müssen ein Tisch und ein Boden aus demselben Material sein? Oder nehmen Sie einen neutralen Glastisch, der zwar leicht ist und sich überall anpasst, bei dem man aber auch unnötigerweise sieht, welche Schuhe das Gegenüber trägt. Stellt man sein Glas auf einem Glastisch ab, hört sich das nicht gut an. Glas ist ausserdem kalt – ich kann an Glas als Möbel also überhaupt nichts Taugliches finden. Die meisten, die einen Glastisch haben, legen dann übrigens Deckchen darauf, um ihn benutzbar zu machen. Also: Ein Tisch aus Holz erfüllt meiner Meinung nach eher seinen Zweck und wird im Idealfall durch Benutzung sogar immer wertvoller.

Mit wenigen Handgriffen lässt sich der zentrale Esstisch an den gleichgroßen Tisch auf der Terrasse stellen, wodurch eine grosse Tafel entsteht. Die wand13 chamäleon in Grau (hinter dem Esstisch) ist in einer Kalkputz-Encaustik-Technik erstellt und mit Wachs unter Druck versiegelt. (Foto: Zooey Braun)

Und vor allem das Material Holz vergisst nicht so schnell, was man ihm angetan hat.
Meine Eltern zum Beispiel haben einen Parkettboden im Esszimmer, auf dem viele Spuren zu sehen sind, die wir damals als Kinder beim Spielen verursacht haben. Und wenn ich heute dort bin und diese Spuren sehe, finde ich das schön!

Die Bauherren Ihres SU House sind Kunstliebhaber. Gab es also viele Gespräche über Oberflächen und Materialien?
Das war ein ganz wesentlicher Teil der Arbeit. Über den Hochbau-Entwurf haben wir gar nicht so viel gesprochen. Dafür umso mehr über den Innenraum und die Materialien. Wir haben uns viele Muster angeschaut, und immer ging es auch um Haptik, sinnliche Qualität und Farbe. Es waren immer lange, für beide Seiten bereichernde Gespräche.

In der goldenen Wand (links) befindet sich der Eingang in den Sauna-Bereich, der komplett mit roten Fliesen versehen wurde. (Foto: Zooey Braun)

Und bei diesen Gesprächen sind einige schöne Dinge herausgekommen!
Ja, und auch Oberflächen, an die ich mich zuvor nicht ohne weiteres getraut hätte. Fliesen z.B. sind nie ein leichtes Thema, und so haben wir im Sauna-Bereich rote Glasfliesen eingesetzt, die sich aber aus verschiedenen Farbnuancen zusammensetzen. Oder: Die eine Längswand im Schwimmbad besteht aus gebürstetem Edelstahl, goldfarben eloxiert. Sie strahlt eine gewisse Wärme und Wohnlichkeit aus, was man oftmals in anderen Schwimmbädern leider vermisst.

Wie ich in Ihrem Büro gesehen habe, gibt es bei Ihnen auch ein richtig grosses Oberflächenarchiv. Da können Sie sich wahrscheinlich immer wieder gut daran bedienen, oder?
Die Themen Material und Oberfläche ziehen sich bei uns durch alle Ebenen, im Bezug auf Wirkung, Farbe, Funktion, aber eben auch Funktion und Wirkung für die Sinne. Mir ist wichtig, an die Funktionalität wie auch an die Benutzbarkeit zu denken. Dies gilt aber auch für die Ausstattung. Man sieht in Architekturmagazinen immer wieder diese schönen, klaren und aufgeräumten Bäder. Ich persönlich aber brauche auch Handtücher und Seife, und die müssen irgendwo untergebracht werden. Manche dieser Halterungen und Aufbewahrungen kann man doch einfach schon vorher sinnvoll mit einplanen, bevor der Bauherr gezwungen ist, sie hinterher selbst zu installieren.

Die Treppe zum Obergeschoss wird belichtet durch ein Oberlicht, dessen Leibungen mit Blattgold belegt sind. Dadurch wird das Hinaufsteigen immer von einem warmen Licht begleitet. (Foto: Zooey Braun)

So sind die weissen Flächen in Ihrer Architektur also nur Leinwand für die verschiedenen Bespielungen durch besondere Oberflächen?
Der Anteil von weissen Flächen ist eigentlich gar nicht so gross, wie viele denken, vor allem im Innenraum. Beim SU House würde ich sogar ein Verhältnis von 50 zu 50 schätzen. Aber natürlich ging es hier auch darum, Flächen für Kunstwerke zu schaffen, wofür sich Weiss als Hintergrund bzw. Leinwand natürlich sehr gut eignet. Der Nutzer muss diese Flächen aber nicht unbedingt bespielen, denn sie funktionieren natürlich auch als einfache Wand.

Was mir deutlich auffällt: Sie legen sehr viel Leidenschaft in das Thema Oberflächen.
Ja, und daran basteln wir immer weiter herum, auch an den handwerklichen Möglichkeiten. Das macht richtig Spass, und viele, die dabei mit uns zusammenarbeiten, sind auch stolz darauf. Z.B. der Beton im Terrassenbereich beim SU House – eine recht grobe Oberfläche – wurde von sogenannten «Betonspitzern» erstellt, eine Tätigkeit, die normalerweise eher beim Abspitzen von überstehenden Bohrpfählen zu finden ist. Ein Knochenjob! Die Jungs waren aber sehr stolz darauf, ihre Arbeit mal sichtbar bei einer Villa ausführen zu dürfen, und Sie haben eine wirklich gute Arbeit geleistet. Mit einem vorgefertigten Produktsystem wäre diese Oberfläche nicht möglich gewesen. Solche Herausforderungen reizen mich sehr!

Vielen Dank für das schöne Gespräch, Herr Brenner. 

Das Schlafzimmer im Obergeschoss lässt sich über die gesamte Raumseite zum eigenen Balkon öffnen. (Foto: Zooey Braun)
Grundriss Obergeschoss
Grundriss Hauptgeschoss
Grundriss Gartengeschoss
Lageplan
Kellner Farbgestaltung Beck GmbH
Stuttgart, D

Hersteller-Kompetenz
wand13 chamäleon

Projekt
Wohnhaus SU House
Stuttgart, D

Architekt
Alexander Brenner Architekten
Stuttgart, D

Bauherr
privat

Fertigstellung
2012

Fotonachweis
 Zooey Braun
Kellner Farbgestaltung Beck

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