Überraschende Aussichten

Thomas Geuder
11. März 2014
Das grosse Panoramafenter lässt es vermuten: Das «Haus der Berge» ist mehr als ein Museum oder Informationszentrum. (Foto: Michael Jungblut)

Was hat man nicht schon gelesen über das Verbinden von innen und aussen durch möglichst grosszügige Glasfassaden! Man fühle sich nicht eingesperrt, im Gegenteil: Es ist, also ob man ganz und gar draussen sei. Freiheit für Körper, Geist und Seele – so lässt es sich ganz bestimmt besser arbeiten, meinen Immobilienmarketing-Experten und nicht wenige Architekten. Ein Stück weit ist diese Argumentationslinie vielleicht sogar richtig, aber auch dem sind klare Grenzen gesetzt. Zum Beispiel wie momentan, im Frühling, wenn draussen die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und die Natur zu neuem Leben erwacht. Ist es da nicht unglaublich schön, an einem derart mit dem Draussen korrespondierenden Arbeitsplatz sitzen zu dürfen? Unerträglich finden das andere und schliessen lieber die Jalousie, um nicht sehen zu müssen, was man verpasst.

Ums «Nicht-sehen-müssen» geht es indirekt auch beim Sonnenschutz, der das Davor und das Dahinter voneinander trennt. «Verschattung» nennt sich das dann und kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Die bekannteste ist die horizontale, oben versteckbare Lamelle vor dem Fassadenglas. Seltener sieht man die bewegliche vertikale Lamelle, die gleichzeitig – weil fest montiert – zum bestimmenden Element der Fassadengestaltung wird. Gesehen haben wir eine solche im «Haus der Berge» in Berchtesgaden, wo sie – das schon einmal vorweg – nur indirekt der Verschattung dient. Für diesen Ort wäre das Versperren des Blicks auch zu schade: Das Haus der Berge ist entwickelt von Atelier Brückner aus Stuttgart, bekanntermassen spezialisiert auf die fantasievolle Inszenierung von Inhalten. In Berchtesgaden ging es darum, eine Ausstellung über den «Nationalpark Berchtesgaden» zu schaffen. Atelier Brückner konzipierten und gestalteten dafür eine Ausstellung, die sich der «vertikalen Wildnis» widmet, also der Flora und Fauna vom Grund des Königssees bis zur Watzmann-Spitze. Die Ausstellung ist als abstrahiertes Landschaftspanorama mit ansteigendem Parcours angelegt, vom Seeniveau bis hinauf zum Berggipfel. Auf ihrem Weg durch die Ausstellung legen die Besucher so rund 2300 Höhenmeter zurück und durchstreifen dabei visuell wie akustisch die vier charakteristischsten Lebensräume des Nationalparks: Wasser, Wald, Alm und Fels. Kulissenhaft gesetzte Raumelemente dienen als Projektionsflächen, um die vier Jahreszeiten und die damit einhergehenden Veränderungen in der Natur zu illustrieren. Die Ausstellung sucht nicht, diese einzigartige Natur bloss abzubilden, sondern will eine Brücke schlagen und Lust auf die Faszination einer unberührten Naturlandschaft. Das vor allem für die Kinder und Jugendlichen, von denen viele solche Landschaften höchstens aus dem Fernsehen kennen.

Fast wie im Kino: Auf einer 10 x 15 Meter grosse Projektionsfläche erhalten die Besucher spannende Einblicke in die Flora und Fauna des Nationsparks Berchtesgaden. (Foto: Michael Jungblut)

Der Museumsbau ist quasi um das Ausstellungskonzept herum entworfen, und so weitet sich der Raum am Ende des Rundgangs und schafft Platz für eine begehbare Bergskulptur, von der aus die Besucher am Ende der Ausstellung auf einer 10 x 15 Meter hohen Projektionsfläche spektakuläre Naturaufnahmen aus dem Nationalpark sehen können. Der Clou ganz zum Schluss: Nach einem Jahreszyklus von 12 Minuten öffnet sich die Projektionswand und gibt den direkten Blick auf den Nationalpark mit Watzmann frei. Möglich wird dieser Überraschungseffekt durch – Sie ahnen es schon – raumhohe, vertikale Lamellen, die sich binnen einer halben Minute um 90 Grad drehen und so den Blick nach draussen frei geben. Zusammen mit dem Hersteller Colt aus Kleve an der niederländischen Grenze hat Atelier Brückner eine Sonderlösung aus den Aluminium-Sonnenschutzlamellen «Shadometal» entwickelt, die innenseitg weiss pulverbeschichtet sind, geschlossen komplett abdunkeln und so als Projektionsfläche dienen. Jeweils drei der ein Meter breiten Lamellen sind verbunden und werden von einem Linearmotor angetrieben. Der Überraschungseffekt beim Öffnen funktioniert: Die Planer holen so die atemberaubende Landschaft des Nationalparks ins Gebäude und inszenieren das berühmte Bergpanorama regelrecht, auch weil man es selbst bei geöffneten Lamellen nie ganz zu Gesicht bekommt. Otto Normalnaturliebhaber möchte sich diese Sonnenschutz-Leinwand dann am liebsten wegdenken – geht aber lieber selbst hinaus auf Entdeckungstour.

Im Foyer erhalten die Besucher neben allgemeinen Informationen auch Live-Bilder aus dem Nationalpark. (Foto: Michael Jungblut)
Der Bereich «Wasser» erklärt die Artenvielfalt des Königsees, der sich nur wenige Kilometer südlich von Berchtesgaden befindet. (Foto: Michael Jungblut)
Stilisierte Bäume dienen als Projektionsfläche, um den Wandel der Jahreszeiten zu zeigen. (Foto: Michael Jungblut)
Grundriss
Schnitt
Der Kubus öffnet sich zu zwei Seiten, wodurch man einen direkten Blick auf den Watzmann hat. (Foto: Colt International)
Bei Dämmerung kehren sich die Vorzeichen um und das Innere des grossen Bergraums öffnet sich dem Aussenraum. (Foto: Michael Jungblut)
Projekt
Nationalparkzentrum «Haus der Berge»
Berchtesgaden, D

Hersteller
Colt International
Kleve, D

Kompetenz
Sonderlösung aus Sonnenschutz-Vertikallamelle Shadometal

Generalplanung, Ausstellungsgestaltung, Ausstellungsgrafik, Licht- und Medienplanung
Atelier Brückner
Stuttgart, D

Projektleitung
Bernd Möller

Projektleitung Grafik
Sabine Loucka, Nana Forell

Entwurfsplanung
Staatliches Bauamt
Traunstein, D

Ausführungsplanung
Leitenbacher Spiegelberger Architekten BDA
Traunstein, D

Bauherr
Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit
München, D

Lichtplanung
LDE Belzner Holmes
Stuttgart, D

Mediengestaltung und -produktion
Tamschick Media+Space GmbH
Berlin, D

Programmierung Interactives
arme irre, Büsch und Kühn GbR
Berlin, D

Zeitrafferaufnahmen (Jahreszeiten)
PanTerra GmbH
Neuried, D

Raumklang
Klangerfinder GmbH
Stuttgart, D

Technikplanung
medienprojekt P2
Stuttgart, D

Medienintegration
inSynergie GmbH
Rheinbreitbach, D

Fertigstellung
2013

Fotografie
Michael Jungblut

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