1. Mai 2013
Der vordere Raum der neuen Galerie AK2 wurde nahezu komplett von den Einbauten der ehemaligen Bäckerei befreit. (Foto: Andreas Körner)

Thomas Geuder: Frau Kammer, sprechen wir zunächst einmal über den Begriff der Nachhaltigkeit, der auch im Claim von InteriorPark zu finden ist: Das Wort wird seit Jahren fast schon inflationär verwendet für alles, was dem Menschen in irgendeiner Form zugutekommt, und wird – je nach Gusto und Zielsetzung – verschieden ausgelegt. Was bedeutet für Sie Nachhaltigkeit?
Tina Kammer: Für uns ist Nachhaltigkeit die Chance, unsere Herangehensweise und unser Werteverständnis zu hinterfragen. Die Ressourcen werden knapper, die Erde wärmer, der Konsum steigt. Wir brauchen Lösungen für unsere Zukunft. Deswegen ist das Thema Nachhaltigkeit immer auch ein ökonomisches. Für uns geht es um die Fragestellung: Womit kann ich leben, wo kann ich mit meinem Namen dahinter stehen, oder muss ich mir Gedanken machen über meine Werte und meine Lebensphilosophie? Für uns ist das also eine gesellschaftliche Frage. Die Designer, die wir auf unserer Website vorstellen, setzen sich intellektuell mit den unterschiedlichen Nuancen der Nachhaltigkeit auseinander. Sie machen sich entweder aufgrund ihrer Herkunft oder der Anwendung mit unterschiedlichen, neuen Materialien Gedanken darüber, wie man über das Design Einfluss auf die Nachhaltigkeit nehmen kann. Und genauso sehen wir das auch in der Architektur. Sowohl für die Designprodukte unseres Shops als auch für unsere Agenturleistungen haben wir eigene Kriterien der Nachhaltigkeit definiert, denn eine offizielle Definition gibt es nun mal nicht. Wir können also alles, was wir tun, transparent und nachvollziehbar begründen. Wir müssen nichts verschleiern, verstecken oder schönreden.

Hinter den Verschalungen kamen ganz unterschiedliche Oberflächen zutage. Einzelne Applikationen der ehemaligen Nutzung wie die Mosaikfliesen konnten weiterverwendet werden. (Foto: Andreas Körner)

Wie gehen Kunden und Auftraggeber mit Ihrem Wertesystem um: Wird es verstanden und angenommen?
Ja, denn unsere Werte basieren auf allgemeinen Kriterien, die Grundlage auch von anderen Umweltsiegeln sind. Themen wie Recycling, Fair Trade oder auch die Verwendung natürlicher Materialien haben wir anhand von Eco Icons auf unserer Website erläutert und als Orientierungshilfe den Produkten zugeordnet.

Seit der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts ist es zunehmend möglich geworden, ein Leben zu führen, das sehr viel Energie verbraucht, viel mehr als vielleicht jedem Einzelnen eigentlich zustehen würde. Haben wir in den letzten 150 Jahren verlernt, nachhaltig zu denken und zu leben?
Absolut. Die Devise unserer Zeit war und ist: Wachstum um jeden Preis. Gleichzeitig wissen wir aber auch, wie endlich die Ölreserven sind, und wir wissen, wie es um die Ozonschicht steht. Trotzdem rennen wir mit Vollgas weiter in diese Richtung.

So richtig bewusst scheint uns das aber erst seit wenigen Jahrzehnten zu sein.
Im 19. Jahrhundert hat man da natürlich noch einen anderen Blick auf die Zukunft gehabt. Damals war die Aufregung um die «neue Welt» noch eine andere, als heute. Aber wir leben auf jeden Fall nach wie vor über unsere Verhältnisse. Eigentlich wissen wir das, aber Alternativkonzepte sind bis heute nicht wirklich entwickelt worden.

Im ehemaligen Café-Bereich (dem zweiten Galerie-Raum) blieben die Einbauten weitestgehend erhalten. Sie erzeugen nun eine starke und kontrastreiche Atmosphäre. (Foto: Andreas Körner)

Liegt es also vielleicht an jedem Einzelnen da draussen, der nicht wirklich bereit ist, ressourcenbewusst zu leben?
Das geht einher mit einem Werteverfall. Eine Anschaffung, für die man vor 30 oder 40 Jahren noch sparen musste, ist heute oft günstig und schnell zu bekommen. Was ist beispielsweise heute ein Stuhl noch wert? Irgendwie entstehen diese niedrigen Preise doch! Um ein Billigprodukt anbieten zu können, muss man auch in einem Billiglohnland produzieren, wo auf Inhaltsstoffe leider nicht immer Wert gelegt wird. Die Rechnung dieses Wahnsinns geht aber nur auf, wenn Masse produziert wird. Die Produkte, die dabei entstehen, sind meist wenig wertvoll oder langlebig. Sie sind eigentlich immer Wegwerfprodukte. Das alles hat mit Nachhaltigkeit natürlich nichts zu tun – es ist sogar ein Gegenmodell.

Die Architekten der Moderne wollten mit dem Sumpf aus Neo-Stilen im Historismus brechen und neue Städte und ein neues Wohnen durch eine neue Architektur proklamieren. Letztendlich also: Abriss der alten Strukturen und Neubau von Visionen. Bis dahin war das Bewahren, das Interpretieren und das pragmatische, manchmal radikale Verändern des Vorhandenen wichtiger Teil der Baukultur. Hat die Ressource Architektur seit der Moderne ihre Bedeutung verloren?
Eigentlich ist heute in Deutschland genügend Bestand vorhanden. Vor allem vor dem Hintergrund des demografischen Wandels gewinnen Bewahrung und Neuinterpretation wieder an Bedeutung. Oftmals ist allerdings aus einer simplen Kosten-Nutzen-Rechnung heraus ein Abriss günstiger. Die Herausforderung für die Architekten lautet: Wie gehen wir mit dem Bestand und den sich verändernden Gesellschaftsstrukturen um?

Stehen die Kosten heute also zu sehr im Vordergrund?
Auf jeden Fall. Das Problem mit Zertifizierungen ist mitunter, dass manchmal ein Gebäude abgerissen wird, um ein neues, nun aber zertifiziertes zu bauen. Hinzu kommt, dass der Kostendruck bei der Vergabe oftmals zur Folge hat, dass aus ökonomischen Gründen zu kurzfristig geplant wird und dadurch bei Qualität sowie Langlebigkeit Abstriche gemacht werden. Dadurch entstehen hohe Folgekosten, die zusammen mit den Anschaffungskosten oft höher liegen, als wenn von Anfang nachhaltige Kriterien angesetzt worden wären. Nachhaltigkeit ist also auch immer ein ökonomisches Thema. Für den Architekten ist das natürlich eine schwierige Situation, weil der im Normalfall dafür bezahlt wird, etwas Neues zu bauen. Am Neubau schliesslich verdient er auch mehr, als an einer Sanierung.

Weiterverwendet: Aus den Regalbrettern wurden Sitzbänke gezimmert, deren Sitz- und Rückenfläche aus geflochtenem Backpapier besteht. (Foto: Andreas Körner)

Die Zertifizierungssysteme werden oft dahin gehend kritisiert, dass mit ihnen eigentlich nur der Neubau bzw. das einzelne Produkt betrachtet wird, nicht aber der gesamte Lebenszyklus.
Das ist letztendlich bei allen derzeitigen Berechnungsgrundlagen so. Reisst man ein Gebäude ab, muss man natürlich auch in Betracht ziehen, welcher CO2-Ausstoss durch Abriss und Neubau entsteht. Und natürlich gehört da auch die Herstellung der Produkte dazu, bei denen oftmals der Aufwand der Subunternehmer gar nicht einberechnet wird. Nachhaltigkeit ist immer ein Grenzgang, der natürlich den ganzen Lebenszyklus einbeziehen muss – und die Grenze bei der Berechnung wird natürlich immer wieder woanders gezogen. Ob man sich am Ende für einen Neubau oder eine Sanierung entscheidet, hängt von vielen Faktoren ab. Beispielsweise welche funktionalen und technischen Anforderungen im Bestand gewährleistet werden können.

Wir haben also verstanden: Genauso wie bei Produkten und Materialien die Nachhaltigkeit über ihren gesamten Lebenszyklus betrachtet werden muss und oftmals auch schon wird, muss auch die Architektur vom Bau bis zum Abriss betrachtet werden, und zwar auch unter Berücksichtigung inhaltlicher, ästhetischer, kultureller, sozialer und historischer Werte.
Dieses Thema ist schliesslich eine grosse und wichtige Diskussion: Inwieweit fliesst die Qualität der Gestaltung mit ein? Denn: Nur ein Gebäude, das über längeren Zeitraum attraktiv ist, wird lange bestehen können. Die Qualität der Gestaltung ist also ganz massgeblich für das Thema Nachhaltigkeit, weil jegliche Langlebigkeit natürlich durch die gute Gestaltung garantiert werden kann. Wir sehen das etwa an den Nostalgien: Für uns ist Bauhaus nach wie vor modern, obwohl das genau betrachtet ein 90 Jahre altes Design ist. Die Frage ist also: Warum ist diese Architektur heute noch modern? Langlebigkeit allein ist aber noch kein Indiz für Nachhaltigkeit. Beispiel: Jede Plastiktüte hält 400 Jahre und wird trotzdem nach 15 Minuten weggeschmissen.

Das stimmt allerdings. Was bedeutet das alles dann für den Berufsstand des Architekten heute? Im Kern seiner Arbeit muss der sich am Ende doch eigentlich umorientieren, oder?
Er kann sich umorientieren, ja. Die eigentliche Entscheidung wird aber im ersten Schritt von den Investoren und vom Bauherrn getroffen, also denjenigen, die ein Projekt zahlen. Der Handlungsspielraum des Architekten ist damit oft von vornherein eingeschränkt.

Beim Betreten der Räume durch die Schiebetür scheint man die ehemalige Bäckerei noch zu spüren. (Foto: Andreas Körner)

Nachhaltigkeit beginnt also eigentlich schon, bevor Architekten überhaupt ins Spiel kommen?
Architekten können das Thema Nachhaltigkeit natürlich noch mit ins Spiel bringen und den Bauherren davon überzeugen. Letztendlich ist Nachhaltigkeit aber ein gesellschaftliches Thema. Sind wir bereit, unser Denken zu verändern, oder gehen wir den bisherigen Weg und machen diesen mit Zertifikaten ein bisschen besser. Aber: Ein bisschen besser reicht eben leider nicht aus.

Kommen wir zum Projekt AK2. Die Botschaft der letztjährigen Architekturbiennale «Reduce/Reuse/Recycle» haben Sie bei diesem Projekt ja recht stringent durchgezogen. War das von Anfang an so geplant dort?
Ja. a) Weil das natürlich eines unserer wichtigsten Themen ist, und b) weil es sich von dem, was wir vorgefunden haben, natürlich angeboten hat, sowohl von der Zeitplanung wie vom Budget her. Letztendlich sollte eine Geschichte erzählt werden. Eine Galerie ist schliesslich der richtige Ort, um Geschichten zu erzählen. Die Galerie befand sich vor dem Umzug in einem der ältesten Gebäude Stuttgarts, das leider abgerissen wurde. Dieser Teil ihrer Geschichte sollte mit eingebunden werden.

Sie haben also von dem abgerissenen Gebäude sowie von der ehemaligen Nutzung der neuen Räume verwertbare Dinge genommen und etwas Neues draus entwickelt?
Wir hatten einen richtigen Fundus an Materialien und Möglichkeiten, aus dem wir schöpfen konnten. Und so sind auch viele Dinge wieder zum Einsatz gekommen.

Aus zwei macht eins.
Genau. Vor allem in der neuen Location, einer ehemalige Bäckerei mit Café, konnte einiges beibehalten werden, das wir neu interpretieren und auch neu inszenieren konnten. Zum Beispiel die Fliesenmosaik-Wände, die als einst Rückblende der Brotregale dienten und wir nun als Zitat auf die Theke gesetzt haben.

Messing-Haken und ein kleines Hinweisschild verweisen manchem Besucher auf eine vertraute Zeit. (Foto: Andreas Körner)

«Reduce/Reuse/Recycle», oder auf Deutsch: Verringern/Wiederverwerten/Weiterverwenden. Für solche Systeme sind derartige Projekte ein Stück weit immer auch ein Test. An welcher Stelle ist die Umsetzung besonders gut gelungen?
Bis auf Wandfarbe mussten wir eigentlich nichts Neues einbringen. Wir haben zunächst die Räume und deren Atmosphäre versucht zu verstehen und dann entsprechend zu inszenieren. Durch diese direkte Auseinandersetzung sind wir schliesslich zu einem anderen Resultat gekommen, als wenn wir klassisch zunächst am Grundriss gearbeitet hätten. So besitzt die Galerie AK2 jetzt zwei ganz unterschiedliche Raumsituationen: Im vorderen Bereich befand sich der Verkaufsraum, der komplett verbaut war mit Holzvertäfelungen und -verschalungen, die leider überhaupt nicht wertig wirkten. Unsere spontane, erste Idee, einfach Farbe darüber zu kippen, hätte dann doch wenig gebracht. Und so mussten wir diesen Teil schliesslich abreissen. Am Eingang – ein typischer Bäckereiladen-Eingang mit Schiebtür – nimmt man jetzt diesen starken Bruch wahr. Man spürt sofort, dass sich hier etwas verändert hat. Im zweiten Raum dann haben wir die Einbauten belassen. Die waren originaler, älter, vielleicht aus den 60er-Jahren, aber auch wertiger. Sie erzeugten eine gewisse Atmosphäre, die wir dann noch unterstrichen haben, indem wir Teile mit einer Gold-Champagner-Farbe versehen haben. Es gibt nun also zwei sehr unterschiedliche Raumsituationen in einem, getrennt durch eine Glastür mit der Aufschrift «Café». Ein Überraschungsmoment also, mit dem kommenden Ausstellungen arbeiten können.

Für seinen Slogan der drei Rs hat Muck Petzet bei der Architektur-Biennale weltweit grosse Anerkennung erfahren. Was ist Ihre Einschätzung: Ist diese Botschaft Ihrer Meinung nach auch bei Bauherren wie Architekten angekommen, oder macht uns der Ressourcen-Konsum noch zu viel Spass?
Der macht natürlich wahnsinnig viel Spass! Aber unsere Erfahrung ist, dass der alternative Weg, der auch im deutschen Pavillon aufgezeigt wurde, auch absolut spannend ist. Unsere Überzeugung ist: Wenn man den nachhaltigen Weg geht und ihn entsprechend qualitativ hochwertig und authentisch umsetzt, wird er immer eine Chance haben, weil es einfach die spannendere Geschichte ist.

Den vorderen, eher kühlen und den hinteren, atmosphärisch warmen Bereich trennt eine originale Tür mit der Aufschrift „Café“. (Foto: Andreas Körner)

Am Ende ist es also immer auch die Wertediskussion?
Absolut. Das sieht man etwa an den Möbeln aus den 1920ern, die heute als Vintage-Möbel verkauft werden. Und genauso ist es ja bei der Architektur. Die Gebäude, die gestalterisch hochwertig umgesetzt wurden, sind heute Baudenkmäler. Die anderen werden abgerissen. Die Substanz muss einfach stimmen. Bei der Galerie AK2 konnte man eben den Charme der Zeit ablesen. Deswegen haben wir auch Zitate beibehalten. Bei der Garderobe etwa bekommt man sofort Assoziationen. Und damit kann man natürlich auch spielen, was mit einem komplett neu gebauten Gebäude nur schwer funktioniert.

Und als Planer muss man natürlich diese anderen Werte abseits ihres monetären Werts erkennen können.
Es ist wie das Erzählen einer Geschichte, die durch den Bestand und eine ehemalige Nutzung immer miterzählt wird. So ist das Thema Nachhaltigkeit, das viele Planer als Einschränkung betrachten, aus gestalterischer Sicht für uns Anregung und Bereicherung zugleich.

Vielen Dank für das Gespräch.

So sah es einmal aus: Wenig wertige, dafür viele Einbauten raubten dem Raum jegliche Atmosphäre. (Foto: Andreas Körner)
Grundriss: Links die beiden Galerieräume, rechts Fotoatelier und Wohnräume.
Fotograf und Galerist Andreas Körner beim Frühjahrsputz. Auch das Bäckereischild ist nun Teil der Geschichte um die Galerie. (Foto: Andreas Körner)
Recht dominant, aber nicht unangenehm im zweiten Ausstellungsraum: die Farbe Gold. (Foto: Andreas Körner)
Ohne Produkt*
(*Reduce/Reuse/Recycle)

Projekt
Umbau einer Bäckerei zur Galerie AK2
Stuttgart, D

Innenarchitektur
InteriorPark.
untitled projects GmbH
Stuttgart, D

Bauherr
Andreas Körner
Stuttgart, D

Fertigstellung
2012

Fotonachweis
team bildhübsche fotografie

Projektvorschläge
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Vorgestelltes Projekt

EBP AG / Lichtarchitektur

Schulanlage Walka Zermatt

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