Zusammenführen

Thomas Geuder
19. Juni 2013
Geschätzte 1,5 Mia. Menschen auf der Welt, in Afrika allein etwa 800 Mio. haben keinen Zugang zu elektrischer Energie. (Foto: Graft)

Thomas Geuder: Herr Krückeberg, die Architektur von graft will sich – so steht es in IhrerFirmenphilosophie auf German-Architects – zunächst einmal «den traditionellen, virtuellen und wirklichen Grenzen in der Arbeitswelt verweigern, um so eine breit gefächerte Palette an Lösungswegen anbieten zu können». Das klassische unbeeinflusste Arbeiten in alle Richtungen also, im Gegensatz zu immer demselben Stilverständnis. An welche Grenzen stossen Sie mit diesem Ansinnen bei Auftraggebern?
Lars Krückeberg: Es sind nicht unbedingt Grenzen. Zunächst einmal muss man sich eigentlich glücklich schätzen, wenn man für seine Arbeit erkannt wird. Darin stecken immer Möglichkeiten, aber auch Probleme, vor allem durch die Erwartungshaltung, die man selbst erzeugt hat. «Die Geister, die man rief» sozusagen. Mit dem Anspruch des sich Verweigerns gegenüber Grenzen sind wir in einer Zeit angetreten, als Mitte/Ende der 1990-er Jahre die Signatur-Architektur zum immer verbreiteteren Stilmittel wurde. Schon damals hatten wir instinktiv den Eindruck, dass man mit diesem Thema extrem vorsichtig umgehen muss. Denn wenn man von Natur aus neugierig ist und sich nicht festlegen will, keine bevorzugte Bauaufgabe hat, auch nicht daran glaubt, dass es die geben kann (jedenfalls nicht für uns), sondern dass von S bis XL und von lokal bis global alles möglich ist und sich letztendlich gegenseitig beeinflusst und auch verbessert, dann ist eine Signatur sehr gefährlich. Viele erfolgreiche Architekten haben für sich zwar eine Signatur gefunden oder werden anhand einer solchen erkannt. Letztendlich sind sie aber oft in ihrer eigenen Signatur gefangen und stossen selbst an Grenzen, wenn diese Signatur auf neue Bauaufgaben angewendet werden soll. Erwartungshaltung ist also etwas Gutes, wenn es um das Generieren von Aufträgen geht, aber sie ist möglicherweise auch die Gefängniskugel am Bein.

Gibt es bei Graft eine Gefängniskugel?
Was uns betrifft, so gibt es offensichtlich in der öffentlichen Wahrnehmung sehr klare, uns zugeschriebene Erkennbarkeiten, gegen die wir uns aber wehren – ohne uns wirklich zu beschweren. Denn gleichzeitig nutzt es uns natürlich auch, erkennbar zu bleiben. Wichtig ist, im Kopfe frei zu bleiben und dazu bereit zu sein, für eine Aufgabe immer die beste Lösung zu suchen. Diese innere Freiheit muss gewahrt werden, man muss sich aber auch immer wieder hinterfragen. Signatur ist in einer Mediengesellschaft für den wirtschaftlichen Erfolg einer Firma gut, aber man sollte tunlichst aufpassen, nicht in eine Designfalle zu tappen. Der beste Weg liegt wohl genau zwischen der eigenen und der äusseren Wahrnehmung. Sprich: Wir werden zwar erkannt, aber ich glaube nicht, dass man uns festlegen kann.

Bei ihrem Beitrag «Make It Right – Shotgun» im Jahr 2009 zum Aufbau der durch einen Hurricane zerstörten Stadtteile von New Orleans ging es für Graft vor allem um das Erstellen von neuem und nachhaltigem Lebensraum. (Foto: Virginia Miller)

Haben potenzielle Kunden diese innere Freiheit auch, wenn sie auf Sie zukommen und nach einem echten «Graft» fragen?
Zumindest ist es ein Vorteil, wenn potenzielle Kunden schon wissen, was wir in der Vergangenheit gemacht haben. So ist das ein oder andere Missverständnis schon einmal aus dem Weg geräumt. Wir freuen uns immer, wenn sich jemand bei uns meldet, weil er einen besonderen Weg beschreiten möchte. Bei unseren Projekten machen wir von Anfang an klar, dass der Ausgang zunächst immer offen sein und man den Weg gemeinsam gehen muss – was meistens auch gut funktioniert. Wir sind letztendlich nicht einfach in eine Schublade steckbar, auch wenn das gerne immer wieder versucht wird. Bei uns bekommt man kein «one size fits all», sondern der formale Ausgang ist zunächst einmal offen. Alle müssen bereit dazu sein, Spass bei der Arbeit zu entwickeln und so zu etwas Besonderem zu kommen. Am Ende geht es um eine Wertsteigerung, und zwar nicht nur für den Nutzer oder den Investor, sondern für alle und auf allen Ebenen. Wir versuchen immer, etwas über das faktische Schaffen von Raum und Licht Hinausgehendes zu produzieren. Es wäre doch sehr komisch, wenn man vorher schon wüsste, wohin die Reise gehen soll!

Der Begriff «graft» hat einige Bedeutungen, Sie verwenden ihn vor allem im botanischen Sinne.
Es geht dabei um das Veredeln zweier genetisch unterschiedlicher Ausgangsidentitäten, die in der Gemeinschaft in der Lage sind, mehr zu leisten.

Welche beiden Identitäten sind das für Sie in der Architektur?
Die Geschichte, die Pate dafür steht, kommt aus dem Weinbau. Deswegen ist unser «Wappentier» auch die Reblaus, ein ursprünglich aus Amerika stammender Parasit, der ca. 1850 nach Europa eingeführt wurde und innerhalb kürzester Zeit den gesamten europäischen Weinbau bedrohte. Die Lösung war damals, auf eine amerikanische Wurzel, die resistent ist gegen diesen Parasiten, den europäischen Edelreis zu pfropfen. Der Wein ist also nur in der Kombination europäischer und amerikanischer Pflanzen gerettet worden – wenn man so will, ein Beispiel der frühen Globalisierung. Die Aussage jedenfalls ist: Wir müssen die heutigen «Cultural Clashes» als Chance begreifen. Man darf nur nicht Angst haben, das vermeintlich Gegensätzliche zu wagen oder zusammenzubringen. Grafting sehen wir also als Methode, inkludierend zu denken und in einem grossen Kaleidoskop am Ende erst zu einem Konzept zu kommen, das möglichst intelligent ist.

Im Solarkiosk werden nicht nur Waren verkauft. Bei Dunkelheit kann er in vielen Dörfern einen illuminierten Mittelpunkt markieren, dessen Licht nicht durch Generatoren, sondern «sauber» durch Speichern von Sonnenenergie erzeugt wird. (Animation) (Foto: Graft)

Nicht nur das Entwerfen von Architektur also, sondern das Kreieren neuer Sichtweisen. Was muss Ihrer Meinung nach Architektur leisten können, um das zu erreichen, bzw. was darf sie nicht sein?
Mit Verboten tun wir uns grundsätzlich schwer, weil das zu sehr nach Dogma klingt. Dogmen führen nicht zu intelligenten Lösungen.

Ich vermute, es geht ihnen um individuelle Einzellösungen, die am Ende ein grosses Ganzes ergeben.
Jede architektonische Aufgabenstellung hat viele Möglichkeiten der Beantwortung. Ich glaube nicht, dass es die eine Lösung gibt, die prinzipiell besser ist, als die andere. Es ist eher eine Frage der Perspektive. Was wir aber schon häufig beobachtet haben: Wenn man möglichst viele Fragen stellt – auch die unbequemen – schafft man es wahrscheinlich, eine Hintertür zu öffnen, die zu einer Lösung führt, die sich zunächst nicht angeboten hatte, die interessanterweise aber plötzlich die richtige ist. Oft findet man sogar erst dann die Lösung, wenn sehr viele, unterschiedliche Dinge aufeinanderprallen. Man kann das gut mit dem Funktionsaufbau eines Witzes vergleichen: Es geht um das Bündeln von Energien und von Dingen, die eigentlich gegeneinander laufen, um den Moment zu erzeugen, in dem der zündende Funke entsteht – beim Witz der unerwartete Moment, der zum Lachen führt. Die die Antwort auf eine Aufgabenstellung sollte immer eine andere sein. Dazu kommt, dass Antworten, die gestern noch richtig waren, mögen heute nicht mehr unbedingt stimmen müssen. Es gibt dieses schöne Zitat von Thomas Morus: «Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.» Darum geht es! Was gestern wichtig war, muss man heute überprüfen. Wenn es dann immer noch richtig ist, dann soll man Tradition pflegen. Aber wenn es nicht mehr richtig ist, dann muss man die Tradition weiterreichen bzw. weiterführen. Berühmte Architekten der Vergangenheit wie Schinkel, Palladio oder Michelangelo würden sich heute im Grab herumdrehen, wenn sie wüssten, dass sie heute dazu herangezogen werden, um Traditionsbewusstsein und gestriges Denken zu rechtfertigen. Sie alle waren eigentlich Revolutionäre ihrer Zeit.

Wie weit würden Sie gehen beim Überdenken von Traditionen?
Man sollte sich die Frage stellen: Leben wir noch so wie gestern? Teilweise ja. Schlafen wir besser in einem Bett, als im Sitzen? Auch das. Aber muss ein Bett in einem Schlafzimmer stehen? Was bedeutet das für das Schlafzimmer und für die gesamte Wohnung? Die Art und Weise, wie wir leben, hat sich beschleunigt, hat sich verändert, die Funktionsbeschreibungen von Lebensparametern sind heute liquide. Flexibilität von Städtebau und Wohnungsgrundrissen ist extrem wichtig, weil das unseren jetzigen Lebensrhythmen und -ritualen mehr entspricht, als das festgelegte Funktionsschema des 19. Jahrhunderts und auch der Moderne mit ihrem functional divide.

Von den schlechten Lebensbedingungen in Afrika hart betroffen sind meist die Kinder – auch wenn das auf diesem Bild vielleicht nicht so aussieht. (Foto: Graft)

Kommen wir zum Solarkiosk. Die Grundidee zu diesem Projekt entstand im Prinzip aus dem Missstand heraus, dass in vielen armen Ländern vor allem Elektrizität fehlt. Elektrizität wie auch die Möglichkeit zur Kommunikation aber sind Grundpfeiler zur Entwicklung einer Wirtschaft und zur Weiterentwicklung einer Gesellschaft. Mit dem Solarkiosk möchten Sie eine Antwort auf dieses Problem geben. Lassen Sie mich zunächst von der anderen Seite her fragen: Welche persönlichen Erfahrungen waren für Sie ausschlaggebend, diese Idee zu entwickeln?
Dieser ganz persönliche Moment war für mich – und ich denke, Thomas und Wolfram wird es da ähnlich gegangen sein – die Grunderfahrung, die ich in Afrika gemacht habe. Wir bauen seit einigen Jahren ausserhalb von Addis Abeba ein Kinderkrankenhaus. Dort ist auch die Idee zum Solarkiosk entstanden. Für mich persönlich war die erste Begegnung mit den Umständen dort schon ein Schock, obwohl man glaubt, darauf vorbereitet zu sein. Wenn man dann aber mit eigenen Augen sieht, was das persönliche Elend bedeutet, und natürlich auch der Tod, ist man plötzlich doch nicht mehr vorbereitet. Man sieht die Waisenhäuser dort, sieht die Zustände in den Krankenhäusern, selbst im besten Krankenhaus des Landes noch – all das ist nicht leicht zu sehen, vor allem weil man sich klarmacht, dass man mit wenigen Mitteln dort sehr viel verändern kann, ob mit Spenden oder am besten direkt vor Ort. Es ist ein unauflösbarer innerer Widerspruch, hier in Europa einen Cappuccino trinken zu gehen und trotzdem zu wissen, dass das Geld für dieses Getränk wahrscheinlich ein Leben in Afrika retten könnte. Damit muss man erst einmal zurechtkommen! Das sind sehr persönliche und sehr wuchtige Grunderfahrungen von menschlicher Tragödie. Man spürt, dass man sich in irgendeiner Weise einmischen möchte, einen Teil dazu beitragen möchte, dass sich etwas ändert, auf welche Art und Weise auch immer.

Im zweiten Teil des Praxis-Gesprächs (eMagazin Ausgabe 26/13) sprechen wir über «soziale Nachhaltigkeit» und werfen einen genauen Blick auf das System und die Konstruktion des Solarkiosks.

Die Idee des Solarkiosk lässt sich weit denken. Bei Dunkelheit kann das Häuschen als Projektionsfläche für Film- oder Live-Übertragungen dienen. (Foto: Graft)
Dieser Solarkiosk ist einer der Prototypen und wurde in Äthiopien errichtet. (Foto: Graft)
Blick aus einem und in einen der Prototypen in Äthiopien: Wohnhäuser in vielen Dörfern sind oft selbst zusammengeschusterte Hütten aus billigen Baumaterialien. (Foto: Graft)
Von solchen Entwürfen wie hier dem KU65 in Berlin aus dem Jahr 2010 (kürzlich honoriert beim AKG Preis) kennt man Graft, die sich jedoch nicht gerne in diese Schublade der dynamischen und bunten Entwürfe stecken lassen. (Foto: Tobias Hein)
Solarkiosk GmbH
Berlin, D

Hersteller-Kompetenz
Solarkiosk

Projekt
autonomous business unit «Solarkiosk»

Architektur/Design
Graft GmbH
Gesellschaft von Architekten
Berlin, D

Solarkiosk in Ethiopia
Solarkiosk Solutions PLC
Addis Abeba, ETH

Solarkiosk in Kenia
Solarkiosk Kenya Ltd.
Nairobi, EAK

Projektpartner
Graft GmbH
Gesellschaft von Architekten
Berlin, D

Stefan Fittkau Metallbau + Kunstschmiede Gmbh
Berlin, D

Reiner Lemoine Institut gGmbH
Berlin, D

Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW)
Berlin, D

Team
Dr. Ulrich Möller, CEO
Andreas Spiess, CEO
Graft: Lars Krückeberg, Wolfram Putz, Thomas Willemeit
Sebastian Massmann, Lead Architect
Janet Haastrup, Head of Logistics
Sasha Kolopic, Head of Marketing & PR
Caspar Wiik, Head of Engineering
Elias Oduncu, Head of Finance & Controlling
Marc Zedler, Grants Manager
Kidest Tigen-Spiess, Office Manager

Subsidiary in Addis Abeba, ETH
Merron Pillart, Managing Director

Subsidiary in Nairobi, EAK
Rachna Patel, Managing Director

Fertigstellung
in ständiger Weiterentwicklung

Fotonachweis
Graft
Georg Schaumburger
Tobias Hein

Projektvorschläge
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Vorgestelltes Projekt

atelier a und b ag

Martiweg

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