Eine Werkstatt für LehrerInnen und Schüler

31. Dezember 2009

Schulanlage Leutschenbach
2009

Zürich-Schwammendingen

Bauherr

Stadt Zürich
Immobilien­bewirt­schaftung
vertreten durch Amt für
Hochbauten und Beta Projekt Management
Zürich
Daniela Staub
Mike Critchley

Architektur
Christian Kerez Architekt
Zürich

Landschaftsarchitektur
4d Landschaftsarchitekten
Bern

Bauleitung
BGS Architekten
Rapperswil

Bauingenieure
Konzept Schwartz Consulting
Oberägeri

Bauingenieure Stahlbau
dsp Ingenieure und Planer
Greifensee

Akustik

Martin Lienhard
Langenbruck

Fassadenplanung
GKP Fassadentechnik
Aadorf

Baumeisterarbeiten

Barizzi Bau
Bertschikon

Kunst­ und­ Bau

Olivier Mosset

Anlagekosten
(BKP 1 – 9 inkl. MwSt.)
CHF 56,5 Mio.

Anlagekosten
(BKP 1 – 9 / m³)
CHF 1108.–



Die atemberaubende Sporthalle krönt das Schulhaus.

Text. Axel Simon
Fotos: Niklaus Spoerri

Die Schule Leutschenbach im Jahr 2012: Schüler sitzen auf bequemen Sofas oder vor Computern. In der Mensa diskutieren Gruppen über die Gestaltung der Projektwoche «Leutschenbach gestern, heute, morgen», draussen lassen einige die Ergebnisse des Modellbaukurses fliegen. Zwei Schüler spielen mit einem Lehrer Schach, andere sitzen in der Sprachecke oder lösen in niveauübergreifenden Gruppen Aufgaben zum Thema Primzahlen… Auch wenn der heutige Schulalltag recht bunt ist: Diese Szenen sind Zukunftsmusik. Selbst die Quartierzeitung des erst im Entstehen begriffenen Zürich-Leutschenbach, in der sie geschildert werden, ist der Phantasie Adrian Scheideggers entsprungen. Seinen fiktiven Zeitungsartikel schrieb er vor sieben Jahren für die Teilnehmer des Architekturwettbewerbs zur Schulanlage Leutschenbach. Scheidegger, ursprünglich Sekundarlehrer, ist Leiter der Abteilung Betrieb und Infrastruktur im Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich. Beim Wettbewerb sass er in der Jury und später im Projektausschuss. Seine Beschreibung eines Schulalltags vermittelte den Teilnehmern des Wettbewerbs ein Bild davon, wie Schule heute funktioniert. «Die Bilder, die Architekten im Kopf haben, hängen mit der eigenen Schulerfahrung zusammen», so Scheidegger. Diese hätte mit der heutigen Realität aber nur noch wenig zu tun.



Anderer Schulalltag als früher
Durch einen steigenden Ausländeranteil und die Integration von Sonderklassen nehmen die Unterschiede zwischen den Schülern zu. Auch verbringen diese mehr Zeit in der Schule, werden nicht selten bis am Abend betreut. Ein Schulhaus wird heute länger, anders und intensiver genutzt als früher, ist Werkstatt, Wohnraum und Quartierzentrum, gerade in neu entstehenden Stadtteilen wie Neu-Oerlikon oder Leutschenbach. Nicht umsonst sind dort in den letzten Jahren die beiden grössten Schulhäuser der Stadt entstanden. Doch auch die Pädagogik ist in Bewegung. Ein Schulgebäude wird im Laufe seines Lebens mehrere Lehrkonzepte erleben und sollte demzufolge räumlich möglichst flexibel sein. Vom Äusseren des Hauses wünscht man sich wiederum ein prägnantes Auftreten, schliesslich brauchen Schule wie Quartier ein Gesicht. Die Wettbewerbe, die das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich in den letzten Jahren durchführte, waren Innovationsbörsen für den Schulhausbau. «Cluster» — die Anordnung mehrerer Klassenzimmer um einen Gemeinschaftsraum — wurden durchdekliniert und Fluchtbalkone sorgen dafür, dass die Möblierung der Erschliessungsräume möglich ist. Christian Kerez’ Schulhaus Leutschenbach scheint dem idealen Schulhaus nahe zu kommen: ikonenhaft nach aussen, flexibel im Innern.

Flüsterkultur in Gemeinschaftsräumen
Schulleiter Daniel Kern kann den Stolz auf «sein Haus» nicht verhehlen. 290 Kinder im Alter von 4 bis 15 Jahren gehen hier ein und aus, wenn das Quartier ausgewachsen ist, werden es 440 sein. Auch Kern war in der Wettbewerbsphase beteiligt, zunächst ehrenamtlich, später angestellt. Das grosse Interesse, das sei-ne Schule bei Architektinnen wie Pädagogen findet, versucht er mit zwei Führungen pro Woche zu bewältigen. «Herausforderung» ist das Wort, das dabei häufig fällt. Eine Herausforderung seien die umlaufenden Balkone, die von den Klassen- und Gemeinschaftsräumen aus zugänglich sind. Als Fluchtwege dürfen sie nur im Notfall betreten werden, reizten die Kinder aber anfangs dazu, ums Haus zu laufen. «Immer wieder eine Herausforderung» sei auch das Arbeiten in den offenen Gemeinschaftsräumen. Die sind doppelt so gross wie ein Klassenzimmer und dienen jedem der 6 Cluster mit je 4 bis 5 Klassenräumen als offenes Zentrum. Durch die unmittelbar angrenzenden Treppen herrscht hier reger Verkehr. Kinder verlassen ihre Klassen, gehen hinauf und hinunter oder machen sich an ihrem Spindfach zu schaffen. Das Blechmöbel dient dazu, die Gemeinschaftsräume etwas zu unterteilen und wird, wie in amerikanischen Teeny-Filmen, von mancher Schülerin im Innern liebevoll ausstaffiert. «Die Akustik ist hier hervorragend, sogar eher besser als in den Klassenräumen», sagt Kern, doch sei man nicht umhin gekommen, die sogenannte «Flüsterkultur» einzuführen. Demnach lautet eine Schulhausregel: Während der Unterrichtszeiten darf in den Gemeinschaftsräumen nur geflüstert werden.

Im Erdgeschoss ist innen nach aussen.

Durchblick für die Lehrer
Der Augenschein beweist: Die Räume werden bereits rege genutzt. Wegen der Sofas von Jürg Bally wirken manche so gediegen wie die Lounge einer Versicherung, andere quillen über vor Stellwänden, Karton-Gebastel und Bildern an den grünlichen Industrieglaswänden. Glastüren verbinden nicht nur die Gemeinschaftsräume mit den Klassenzimmern, sondern auch diese untereinander — für den Schulleiter ein Pluspunkt, weil sie eine Zusammenarbeit innerhalb des pädagogischen Teams ermöglichen, das in dem jeweiligen Cluster zu Hause ist — ein solches Team besteht aus 3 Klassenlehrern und weiteren Betreuern, wie Heilpädagogen, Hortpersonal, Lehrerinnen für Deutsch als Zweitsprache und Handarbeit. Für sie sind die Glastüren aber eben auch eine Herausforderung, wie der ein oder andere Sichtschutz an der Scheibe zeigt. Die Klassenräume sind mit 85 Quadratmetern und einer Höhe von 3,60 Metern grösser als es die kantonalen Richtlinien vorschreiben. Hier versteht man den Begriff «Werkstattunterricht», der für die heutige Alternative zum klassischen Frontalunterricht steht. Der Blick aus den Fenstern geht in die Ferne, folgt der Bahn Richtung Wallisellen oder dem Rauch der Müllverbrennungsanlage. Die recht klobigen Standardschulmöbel stören nicht in diesen lichten Räumen, doch sind sie zu schwer, um mal eben in den Gemeinschaftsraum getragen zu werden. Eine Kommission der Stadt Zürich arbeitet an leicht verschiebbarem Mobiliar, so hört man.

Keine Nischen und Zwischentöne
Die Kehrseite der luftiglichten Klassenzimmer: Einige Nebenräume, wie die Besprechungs- und das Musikzimmer im 4. Obergeschoss, sind gar klein geraten. Ebenso die Umkleideräume, die als geschlossene Box im gigantischen Raum der zuoberst liegenden Sporthalle wie hereingestellt wirken. Der umlaufende Erdgeschossraum ist mit seiner niedrigen Decke und konsequenten Offenheit einer der eindrücklichsten Orte des Hauses — auch hier fehlt es an räumlichen Zwischentönen. Abgesehen von einem kleinen geschlossenen Ruheraum mit undurchsichtiger Glaswand: keine Nische nirgends! Innenraum ist Aussenraum und das rahmenlose Glas nicht mehr als eine thermische Grenze. Vorhänge sind architektonisch unerwünscht und durch die Zick-Zack-Form der Betondecke nicht anzubringen. Auch dem Einsatz anderer Textilien wie Teppiche sind durch den Brandschutz klar abgegrenzte Bereiche zugewiesen — die Kleinsten spielen oft auf Beton. Der ist zwar geheizt, aber nicht das, was man eine sinnliche Erfahrung nennen möchte. Möbel und zusätzliche Teppiche sollen hier wie anderswo im Gebäude die nötigen «individuellen Rückzugsorte» schaffen, die auch die neuen Schulbaurichtlinien des Kantons Zürich fordern. «Da sind wir dran», sagt Daniel Kern.

Rückzugsorte selbst entdecken
Christian Kerez findet es interessanter, wenn in einem Gebäude, wie einer Schule, die Nischen nicht vom Architekten vorgegeben werden. «Rückzugsorte müssen entdeckt werden, erkämpft.» Vorbehalten gegenüber der Atmosphäre seines Hauses begegnet der Architekt mit entwaffnender Offenheit: «Das Gebäude ist nicht sinnlich.» Es sei eine Werkstatt. Zuerst hatte er befürchtet, es könne steril wirken, doch all die Kleider und Zeichnungen der Kinder sorgten für Entspannung. Warum diese selbstkasteiende Beschränkung auf die Materialien Beton, Glas, Aluminium und Kunststein? Kerez braucht den Fokus auf das Wesentliche: den Raum. «Hübsche Häuser erschöpfen sich schnell.» Dabei, so betont er, stand die Pädagogik am Anfang des Entwurfs: Welche Art von Unterricht möchte man? Dass die Vorgaben des Wettbewerbs — unter anderem der Aufsatz Adrian Scheideggers — kein genaues Programm formulierten, sondern eine Zielsetzung umschrieben, beurteilt der Architekt ebenso positiv wie die Inputs Daniel Kerns schon in der zweiten Phase des Wettbewerbs: «Die enge Zusammenarbeit war entscheidend.»  Kerez’ Leuchtturm lockt nicht nur Architektur- und Pädagogiktouristen nach Leutschenbach. Daniel Kern hatte trotz ausgetrocknetem Markt keine Probleme, Lehrpersonal zu finden. In den Bewerbungsgesprächen sei die Architektur immer Thema gewesen. «Die Leute reizt es, neue Lehrformen zu erproben, das Haus unterstützt uns dabei.» Die Herausforderung lockt!

Schulanlage Leutschenbach
2009

Zürich-Schwammendingen

Bauherr

Stadt Zürich
Immobilien­bewirt­schaftung
vertreten durch Amt für
Hochbauten und Beta Projekt Management
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Daniela Staub
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Architektur
Christian Kerez Architekt
Zürich

Landschaftsarchitektur
4d Landschaftsarchitekten
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Bauleitung
BGS Architekten
Rapperswil

Bauingenieure
Konzept Schwartz Consulting
Oberägeri

Bauingenieure Stahlbau
dsp Ingenieure und Planer
Greifensee

Akustik

Martin Lienhard
Langenbruck

Fassadenplanung
GKP Fassadentechnik
Aadorf

Baumeisterarbeiten

Barizzi Bau
Bertschikon

Kunst­ und­ Bau

Olivier Mosset

Anlagekosten
(BKP 1 – 9 inkl. MwSt.)
CHF 56,5 Mio.

Anlagekosten
(BKP 1 – 9 / m³)
CHF 1108.–



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