Die soziale Dimension des Kaufens
Mit der Ausstellung »Konsumwelten. Alltägliches im Fokus« dokumentiert das Schweizerische Nationalmuseum 170 Jahre Konsumkultur. Der Schwerpunkt liegt dabei auf zwischenmenschlichen Beziehungen.
Die Ausstellung »Konsumwelten« wurde nicht in erster Linie entwickelt, um Konsum- oder Gesellschaftskritik zu üben. Vielmehr untersucht sie, wie sich das Kaufen und Verkaufen in den letzten 170 Jahren verändert hat. Anders als die anspruchsvolle Schau »kolonial« des Landesmuseums, die einen Meilenstein bei der Aufarbeitung des Kolonialismus markiert und Besucherrekorde brach, prägt »Konsumwelten« eine fröhliche Leichtigkeit. Der Unterhaltungswert und das Erlebnis, sich in der einen oder anderen Situation wiederzuerkennen, machen den Besuch zum Genuss.
Gezeigt werden in »Konsumwelten« zahlreiche Zeitdokumente – hauptsächlich Fotografien –, die die Vergangenheit lebendig werden lassen. Im ersten Teil der Schau sind unterschiedliche Verkaufsorte zu sehen, anschließend stehen Konsummomente im Mittelpunkt, die unsere Gesellschaft geprägt haben.
Laut, bunt und praktisch: Menschenmassen stürmen täglich auf den Markt, um sich die besten Frischprodukte für die heimische Küche zu sichern. Wir befinden uns am Anfang der Ausstellung und blicken zurück in die 1850er-Jahre. Märkte besaßen auch eine gesellschaftliche Funktion: Als wichtige soziale Treffpunkte vermochten sie mehr, als Brot und Gemüse in Umlauf zu bringen. Das Gewimmel und die Hektik faszinierten professionelle Fotografen und Amateure gleichermaßen. So sind uns zahlreiche Bilder geblieben, die uns Einblick gewähren in die Sitten und Gebräuche der Vergangenheit.
Bestimmt hatten viele Menschen auf den Märkten ihre bevorzugten Lieferanten. Bald aber wurde die persönliche Beziehung zur Kundschaft weniger auf dem Marktplatz als vielmehr in den Geschäften gepflegt. Auch dabei spielte die Fotografie eine wichtige Rolle: Durch die Bilder erhielten die Läden ein Gesicht. Stolz ließen sich der Apotheker, die Modeschneiderin oder eine engagierte Familie vor ihrem Geschäft fotografieren und präsentierten ihr Angebot im besten Licht.
Beziehungen entstanden nicht nur zwischen Käufern und Verkäufern: Die Ladenbesitzer gründeten Rabattvereine, um dem Einkaufen auf Kredit Einhalt zu gebieten, oder schlossen sich zu Verbänden zusammen, um die nationale Produktion zu unterstützen. Auch die Konsumenten hielten zusammen – in der Schweiz riefen sie Genossenschaften wie Coop und Migros ins Leben, um ihre Interessen zu wahren. Der Genossenschaftsgedanke führte schließlich auch zur Entstehung von Kaufhäusern. In der Ausstellung zu sehen ist der 1913 eröffnete St. Annahof in Zürich. Die Genossenschaftsmitglieder wurden an den erwirtschafteten Überschüssen beteiligt, und die Allgemeinheit konnte Produkte zu erschwinglichen Preisen kaufen.
Mit den Warenhäusern ging die persönliche Beziehung zwischen Geschäftsleuten und Kundschaft verloren – nun galt es, Erlebnisse zu bieten. Die extravagant gestalteten Bauten prägten die Städte und verliehen ihnen einen großstädtischen Charakter. Raffiniert wurde die Ware in Schaufenstern präsentiert, und das Schaufenster-Shopping entwickelte sich zur beliebten Beschäftigung. Die Fotografie diente weiterhin der Werbung, nur kamen jetzt die Produkte vor die Linse. Die Bilder entstanden jetzt perfekt inszeniert und ausgeleuchtet im Fotoatelier.
Auf ihr erstes Einkaufszentrum, in dem Filialen großer Warenhäuser und kleine Geschäfte vereint waren, musste die Schweiz lange warten: 1970 wurde das Shopping Center Spreitenbach eröffnet. Die Werbekampagne »Unser Plan vom Paradies« sollte der Bevölkerung das neue Einkaufserlebnis schmackhaft machen. Doch die Anlagen an den Stadträndern mit ihren gigantischen Parkplatzlandschaften riefen nicht nur »paradiesische« Gefühle hervor: Raumplanerisch und ökologisch sorgten sie schon bald für heftige Kritik.
Die Beschäftigung mit der sozialen Dimension des Konsums wird bei den Einkaufszentren zur Milieu-Beobachtung: Ein SRF-Beitrag (Schweizer Radio und Fernsehen) von 1979 widmet sich Jugendlichen, die im Shopping Center Spreitenbach herumhängen – Wasser auf die Mühlen der Kritiker.
Im zweiten Teil der Ausstellung geht es um Erlebnisse und Status – das Konsumieren rückt näher an das Privatleben. Als erstes Essen und Trinken: Das Picknicken kommt in Mode und die Stammkneipe wird zum Treffpunkt und Erholungsort der Arbeiter. Ausgehen und der Restaurantbesuch haben vor allem mit Geselligkeit zu tun.
Auch das Autofahren ist Teil der Konsumkultur und wird entsprechend inszeniert: Stolz posieren Menschen auf den Fotos in der Schau vor ihren neuen Boliden. Schon in den 1930er-Jahren war es ein Freizeitvergnügen, im Wagen über Pässe zu sausen, und bis heute sind Autos Statussymbole geblieben. Doch nicht alle protzen gerne: Zuweilen steht ein bescheidener Kleinwagen für eine umweltbewusste Haltung.
Auch die Konstruktion der eigenen Identität ist im zweiten Ausstellungsabschnitt Thema. Zu sehen sind Porträtfotos, auf denen Bücher als Requisiten benutzt werden, um gebildet zu wirken, oder Reisedias, die Freunden und Familie Abenteuerlust und Wohlstand beweisen sollten.
Ein gut gewähltes Beispiel für einen der Trends, die ab den 1980er-Jahren zu prägende Lebenseinstellung wurde, ist das Snowboard. Mit entsprechender Kleidung – nicht nur für die Piste, sondern auch für den Alltag – und dem Versprechen von Freiheit begeisterte die Szene zahlreiche Jugendliche wie früher das Surfen. Um dazuzugehören, müssen oft teure Markenprodukte her – auch die freiheitsliebende Snowboard-Szene war nicht frei vom Konsumzwang.
Die Ausstellung »Konsumwelten. Alltägliches im Fokus« lädt also auch ein, sich über das Gesehene Gedanken zu machen. Abhängig vom eigenen Standpunkt rufen die Ausstellungsstücke Irritation hervor, wecken Neugier oder lassen einen schmunzeln – vieles hat man eben doch selbst mitgemacht. Die Schau wirkt in zwei Richtungen: Sie kann wie ein lustiges altes Fotoalbum aus der eigenen Vergangenheit sein oder eine Gelegenheit, um über das sehr facettenreiche Thema Konsum nachzudenken.
Die Ausstellung »Konsumwelten. Alltägliches im Fokus« ist noch bis zum 21. April im Zürcher Landesmuseum (Museumstrasse 2, 8001 Zürich) zu sehen.