Eine Landschaft, die nie fertig ist
Vielfach wurden Flüsse im Alpenraum begradigt und zwischen hohen Dämmen eingezwängt. Wertvolle Auenlandschaften gingen so verloren. Doch in der Engadiner Gemeinde Bever hat der Inn wieder Raum erhalten. Das kommt der Natur zugute, nutzt aber auch dem Hochwasserschutz.
Der Inn ist nicht nur einer der längsten Alpenflüsse und durchfließt drei Länder, er gibt auch dem Engadin seinen Namen: Aus den rätoromanischen Worten »En«, also Inn, und »Giardina«, sprich Garten, setzt sich der Name Engiadina zusammen – der Garten des Inn. Besonders das Oberengadin mit seinen vielen Seen und den mäandrierenden Flussläufen vor imposanter Bergkulisse verkörpert diesen Namen in eindrucksvoller Weise. Das klare Licht lässt Wasser, Felsen und Wälder in ungewohnter Schärfe und berührender Leuchtkraft erscheinen – und verleiht der Landschaft eine stille, fast magische Präsenz. Doch die Idylle trügt: Seit jeher kämpfen die Menschen gegen Hochwasser und Naturgewalten.
Im Gebiet der Gemeinde Bever führten wiederkehrende Überschwemmungen dazu, dass der Inn 1962 in ein kanalisiertes Flussbett gezwängt wurde. Über 35 Jahre lang schützten die Dämme die angrenzenden Landwirtschaftsflächen zuverlässig. Doch die Bauwerke kamen in die Jahre: Risse bildeten sich. Zwar fanden Kreuzottern darin Unterschlupf, aber gleichzeitig untergrub die Erosion zunehmend die Fundamente. Eine Sanierung war unausweichlich.
Obwohl der Inn einen zusammenhängenden Naturraum von über 500 Kilometern Länge formt, obliegt den jeweils angrenzenden Gemeinden die Pflege des Flussraums. Die herkömmliche Lösung, nämlich die Dämme zu sanieren und zu erhöhen, hätte die Gemeinde Bever finanziell kaum stemmen können. Vor allem aber wäre die Landschaft noch weiter zerschnitten worden. Ein anderer Ansatz musste gefunden werden. Eine Revitalisierung versprach nicht nur besseren Hochwasserschutz und eine ökologische Aufwertung, sondern wurde auch vom Bund und dem Kanton Graubünden subventioniert.
Verschiedene Studien mit unterschiedlichen Schwerpunkten führten zwischen 1998 und 2005 zu einer allmählichen Annäherung an das Projekt: Von Überlegungen zur funktionalen Trennung von Wander- und Radwegen, über die Untersuchung ökologischer und gesellschaftlicher Vorteile und Mehrwerte gelangte man zu umfassenden Revitalisierungsszenarien. 2007 war die Zeit reif – der Gemeindevorstand vergab den Auftrag zur Entwicklung eines Revitalisierungskonzeptes an eine interdisziplinäre Planungsgemeinschaft. Sie bestand aus dem Ingenieurbüro für Fluss- und Wasserbau Hunziker, Zarn & Partner, dem Fachbüro für Umweltfragen und Wasserbau Auin (vormals Fachbüro für Umweltfragen ecowert) sowie dem Ingenieurbüro für Wasserbau und Gewässerrevitalisierung Eichenberger Revital. Weil das Projekt über den reinen Wasserbau hinaus große Bedeutung für die Gemeinde und die ganze Region hatte, wurden die wichtigsten Akteure einbezogen: Kantonale Stellen, Naturschutzorganisationen, Vertreter aus der Landwirtschaft und dem Tourismus, die Gemeinde sowie das Amt für Natur und Umwelt Graubünden wurden eingeschaltet. Das partizipative Vorgehen war essenziell für die spätere Akzeptanz. Im Mittelpunkt standen nachhaltige Lebensräume für Flora und Fauna, der Erhalt landwirtschaftlicher Nutzflächen, die Schaffung eines Naherholungsgebiets, tragbare Projektkosten sowie ein einfacher Unterhalt.
Die Revitalisierung der Innauen fand in zwei Etappen zwischen 2012 und 2021 statt. Mit viel Fürsorge wurden vor Beginn der Bauarbeiten alle Kreuzottern eingefangen und umgesiedelt, denn die Schlangen sind in der Schweiz stark bedroht und stehen unter Naturschutz. Im ersten Schritt erfuhr das Flussbett zwischen dem Einlauf des Beverins und der Isellasbrücke auf der orografisch linken Seite eine Verbreiterung und in der zweiten Etappe von der Isellasbrücke bis zur Gemeindegrenze am rechten Ufer. Neue Dämme sind nun so weit zurückversetzt, dass die bestehenden Auenwäldchen und Binnengewässer wieder ins Flussbett integriert sind und bei Hochwasser geflutet werden.
Die Schweiz verfolgt mit dem revidierten Gewässerschutzgesetz, kurz GSchG, aus dem Jahr 2011 unter anderem das Ziel, die natürliche Funktion der Gewässer wiederherzustellen und zu erhalten. Es markiert einen wichtigen ökologischen Paradigmenwechsel im Umgang mit Flüssen, Bächen und Seen. Verschiedene Flussläufe und Uferzonen sind mittlerweile bereits renaturiert, und bis ins Jahr 2090 sollen landesweit rund 4000 Kilometer Fließgewässer ökologisch revitalisiert werden – ein ambitioniertes Ziel.
Das Flussbett wurde von schmalen 15 auf 90 bis 200 Meter verbreitert. Die Kosten für die Revitalisierung beliefen sich auf stattliche 12 Millionen Franken. Davon übernahmen das Bundesamt für Umwelt, das Amt für Natur und Umwelt Graubünden, Pro Natura Schweiz, der Fonds Landschaft Schweiz, der naturmade star-Fond der Elektrizitätswerke der Stadt Zürich ewz sowie die Ernst Göhner Stiftung den größten Teil.
Ein Besuch der Innauen lohnt sich. Der beste Ausgangspunkt für einen Spaziergang ist die 2014 neu erstellte Fußgängerbrücke über den Fluss am nördlichen Ende des Lej da Gravatscha, bei der Beverinmündung. Von hier zeigt sich der Kontrast der beiden unterschiedlichen Landschaftsräume eindrücklich: südlich fließt der Inn noch zwischen hohen Dämmen. Im Norden hingegen breitet sich der Fluss in einem offenen Landschaftsraum aus: Er mäandriert, formt Kiesbänke, schafft Inseln und verändert sich laufend. Der neue niedrige Damm, der nur noch auf einer Seite verläuft, trennt kaum. Nun lebt der pittoreske Flussraum in einem Abschnitt von zwei Kilometern von einer hohen Biodiversität und der Eigenheit des Wasser als bewegendes Element ohne Stillstand mit fortwährender Veränderung. Was hier entstanden ist, wirkt natürlich und wenig technisch; nur die Infotafeln am Wegesrand zeugen davon, dass Menschen diesen neuen Lebensraum geschaffen haben.
Die Revitalisierung des Inns bei Bever ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein Fluss seine ureigene Dynamik zurückerhält – zur Freude von Einheimischen wie Gästen und der Artenvielfalt zuliebe. Heute leben in den revitalisierten Auen wieder Fischotter-Paare, und auf den Kiesbänken brüten die seltenen Flussuferläufer und Flussregenpfeifer. Sogar ein Biber ist zurückgekehrt.
Gutes Bauen Ostschweiz möchte die Diskussion um Baukultur anregen. Die Artikelserie behandelt übergreifende Themen aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur. Sie wurde lanciert und wird betreut durch das Architektur Forum Ostschweiz (AFO). Das AFO versteht alle Formen angewandter Gestaltung unserer Umwelt als wichtige Bestandteile unserer Kultur und möchte diese in einer breiten Öffentlichkeit zur Sprache bringen.