Verspätung? Egal!
Das Warten auf den Bus in Ilanz ist gar nicht so schlimm, denn es gibt an der Haltestelle einiges zu sehen. Wie ein »roter Faden« im öffentlichen Raum sollen sich in Zukunft mehrere Bushäuschen durch die Fraktionen der Gemeinde ziehen.
Als regelmäßige Busfahrerin verbringt man schätzungsweise mehrere Monate seines Lebens an einer Bushaltestelle. Ganz selbstverständlich hocken wir da, Tag für Tag. Wir erinnern uns vermutlich bis heute, woraus die Bank des Bushäuschens aus der Kindheit war. Welches Material das Dach hatte. Ob die Seiten aus Glas oder offen waren. Als ästhetisches Nutzobjekt verstehen wir das Bushäuschen aber vermutlich kaum, obwohl es eine ganze Reihe von Aspekten aus Architektur, Stadtplanung, Design und auch der Soziologie in sich vereint.
Bushaltestellen sind primär funktionale Orte, die Schutz, Informationen und in der heutigen Zeit zunehmend auch »smarte« Funktionen bieten sollen. Ihre Gestaltung variiert aber je nach Klima, Gemeindegröße und Budget oder auch kulturellem Kontext. In Skandinavien etwa dominieren minimalistische, eher geschlossene Formen, während in Teilen Lateinamerikas und Asiens farbenfrohe und oft improvisierte Bauten anzutreffen sind. Und in der Stadt St.Gallen? Da streitet man sich über die Höhe der Wartehäuschen.
Mancherorts werden Haltestellen gar zum Kunstobjekt erhoben. Ein prominentes Beispiel dafür aus der Bodenseeregion ist das Projekt BUS:STOP im Bregenzerwald. Die Gemeinde Krumbach hat 2010 sieben internationale Architekturbüros mit der Gestaltung je einer Bushaltestelle beauftragt, darunter De Vylder Vinck Taillieu aus Belgien, Ensamble Studio aus Spanien, Smiljan Radic aus Chile und Sou Fujimoto aus Japan, der auch das 2022 eröffnete Glasgebäude SQUARE an der Universität St.Gallen (HSG) entworfen hat.
Dass es gut auch eine Nummer kleiner und lokaler geht, zeigt die Bündner Gemeinde Ilanz/Glion. Sie besteht seit 2014 aus zwölf dezentralen Fraktionen und dem gleichnamigen städtisch geprägten Zentrum. Anfang 2022 hat der Gemeinderat unter den ortsansässigen Architektinnen und Architekten einen Ideenwettbewerb für die Neugestaltung der Buswartehäuschen ausgeschrieben. Diese sollten den »roten Faden durch die Gemeinde ziehen und als verbindendes Element die Ortsbilder bereichern«. Vorgesehen waren zehn Häuschen in sieben Fraktionen.
Aus sechs Projekten wurde schließlich jenes von Francesco Forcella ausgewählt: Ein vom Strickbau inspirierter, halboffener Holzunterstand mit Sitzgelegenheit, variabel in Größe und Typologie. Sein Konzept lässt sich auf alle 13 Gemeindefraktionen adaptieren, bisher steht aber erst jenes an der Haltestelle Spital in Ilanz. Ein zweites an der Haltestelle Freibad Schlifras ist in Arbeit, und 2026 soll voraussichtlich ein drittes in Siat entstehen. Alle werden von lokalen Handwerkern und mit einheimischem Holz erbaut.
Sein Wartehäuschen sei »kein Kunst- oder Designobjekt«, erklärt der gelernte Hochbauzeichner beim Gang rund um die Haltestelle. »Ich verstehe mich auch als Konstrukteur.« Die Strickbauweise in Fichtenholz, die seinen Entwurf optisch ausmacht, ist typisch für die Region. Aber es steckt noch mehr darin. Abgeschlossen wird der Unterstand von einem leicht abfallenden, auskragenden Dach. Dessen Kern ist ebenfalls aus Fichte, aber umrahmt von Stahl und abgedeckt von zwei Schichten Dachpappe. Die Konstruktion wurde mit Stahllaschen und einer Stahlplatte im Boden statisch verstärkt – beides so gut wie unsichtbar. Nur die Finken am Fundament und Schrauben in den Holzpfeilern verraten, dass der federleicht wirkende, fast schwebende Holzbau potenziell jedem Schneesturm standhält. Entwickelt hat Francesco Forcella die Statik in Zusammenarbeit mit einem Zimmermann, einem Ingenieur und einem Modellbauer.
Verbindende Ortsmerkmale gibt es in Ilanz wenig. Die Fraktionen der Gemeinde sind weit verstreut und haben zum Teil eher den Charakter eines Weilers. Beim Spital Ilanz direkt an der Hauptstraße, braucht das Häuschen Platz für mehrere Personen. Für kleinere Haltestellen, etwa in Siat, sieht Forcellas Konzept kürzere oder einseitig angeschlagene Varianten vor. Es gibt auch beidseitige Gestaltungen für Inselsituationen, wo der Verkehr an zwei Seiten des Wartehäuschens vorbeiführt. Selbst eine Variante, bei der sich die Wartenden versetzt gegenübersitzen und unterhalten können, wurde angedacht.
Die Jury lobte Forcellas Entwurf als eine Lösung, die die unterschiedlichsten Bedürfnisse erfülle. Sowohl Materialwahl als auch Konstruktionsweise seien »naheliegend und identitätsstiftend«. Das universell anwendbare System sei zudem auch »gestalterisch überraschend und neuartig«. Damit werde es »als der erwünschte rote Faden, also als Erkennung der Zusammengehörigkeit innerhalb der Gemeinde Ilanz, gelesen werden«.
Forchella freut sich über dieses Lob. Als Architekt stand für ihn das möglichst ästhetische Gefüge aus Proportion und Konstruktion im Vordergrund. »Aus jedem Blickwinkel ergibt sich ein neues Bild«, sagt er und lacht. »Den Wartenden wird so schnell nicht langweilig. Dann macht es auch nichts, wenn der Bus einmal ein bisschen Verspätung hat.« Das Stichwort zu einer weiteren Komponente, die ihm auch als Privatperson und öV-Mitbenutzer wichtig war, nicht zuletzt aufgrund des zum Teil garstigen Wetters in der Surselva: »Die Leute sollen sich in meinen Häuschen wohl, einigermaßen geschützt und geborgen fühlen.«
Gutes Bauen Ostschweiz möchte die Diskussion um Baukultur anregen. Die Artikelserie behandelt übergreifende Themen aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur. Sie wurde lanciert und wird betreut durch das Architektur Forum Ostschweiz (AFO). Das AFO versteht alle Formen angewandter Gestaltung unserer Umwelt als wichtige Bestandteile unserer Kultur und möchte diese in einer breiten Öffentlichkeit zur Sprache bringen.